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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXII (1977 / Heft 150)

Forderungen; er mußte nicht erst im nachhinein 
benannt werden. Dem Gestern mit all seinem 
Gerümpel, das man nicht mehr mitschleppen 
wollte, kehrte man entschieden den Rücken. Die 
Absage an den Historismus formulierte Otto 
Wagner; „Es findet keine Renaissance der Re- 
naissance statt, sondern eine Naissance." Es 
galt, heute zu leben. Man freute sich der Frei- 
heit, genoß eine Carpe-diem-Einstellung, feierte 
die allgemeine Aufbruchsstimniung. Und dem 
Margen sah man hoffnungsvoll entgegen. Es gab 
sehr viel Idealismus und zuviel Utopie. Die be- 
wegte Linie war Leitmotiv und zugleich wesent- 
liches Gestaltungsmittel des neuen Stils. Mit 
voller Absicht stützte er sich sowohl auf die No- 
tur als auch auf die Geometrie. Einziges Krite- 
rium und Thema war das Leben, also nicht mehr 
die Kunst. Um einen neuen lsm-us ging es nicht. 
„Das Gestern ist nur ein Schatten im Licht des 
Heute, das vom Morgen träumt", definierte Groß- 
herzog Ernst Ludwig. Er hatte 1899 sieben Künst- 
ler nach Darmstadt geholt; Olbrich, den berühm- 
ten Architekten, die Maler und Graphiker Hans 
Christiansen und Peter Behrens, den Innenaus- 
statter Patriz Huber, Paul Bürck, dessen Haupt- 
gebiete Kunstgewerbe und Buchschmuck waren, 
und die Bildhauer Ludwig Harlich und Rudolf 
Bosselt. Der hessische Landesvater und seine 
Künstler waren alle kaum älter als dreißig Jahre. 
Ein relativ hohes Gehalt und keinerlei Lehrver- 
pflichtung lockten. Das neue Programm sollte in 
der Gemeinschaft geprobt und praktiziert wer- 
den. In der von den Künstlern selbst gestalteten 
Darmstädter Kolonie, in den Häusern auf der 
Mathildenhöhe wurden keine Kunstwerke in 
Teamwork geschaffen, die dann museal hätten 
ausgestellt werden sollen. In der Totalitöt ihres 
Konzepts wollte die Siedlung (Architektur, Gar- 
tengestaltung, Innenausstattung, Gebrauchsge- 
genstände) die Kriterien des neuen Stils demon- 
strieren: „Ein Dokument deutscher Kunst." Will 
man Jugendstil in der Literatur nicht von vorn- 
herein verneinen, dann muß aber deutlich einge- 
grenzt werden: Die Literatur wird vorn Dekor 
aufgesogen, sie wird selbst ornamental. Das zei- 
gen ganz unmißverstöndlich beispielsweise die 
für den Jugendstil typischen Zeitschriften „Pan" 
und „Jugend", die dokurnentarisch belegen, wie 
ambivalent und exquisit ienes Stilwollen sein 
konnte. 
Der Mann, der die „Jugend" gründete 
Am 3. Juli 1841 wurde im thüringischen Gräten- 
tonna Georg Hirth geboren. Im Alter von acht- 
zehn Jahren veröffentlichte er dort sein erstes 
Buch im Selbstverlag und anonym: „Friedrich 
Schiller als Mann des Volkes." Ein Erfolg, und 
Hirth avancierte zum Mitarbeiter von „Wester- 
monns Monatsheften" und der „Gartenlaube". 
Das war wohl sein entscheidender Schritt in 
Richtung „Jugend", denn hier, bei Ernst Keil, dem 
Gartenlauben-Hera-usgeber, wurde er Sekretär. 
Hirth studierte Geographie, Statistik und Natio- 
nalökanomie. In Jena promovierte er 1863. Der 
junge Volkswirtschiaftler trat engagiert und voller 
Idealismus für die deutschen Einigungsbestrebun- 
gen ein. Die Freiheitlichen Ideen begeisterten 
ihn, aber seine nationale Einstellung lenkte ihn 
in den Bereich der deutschen Turnbewegung. Er 
redigierte drei Jahre lang die Leipziger „Deut- 
sche Turnzeitung". Für Preußen kämpfte er 1866, 
wurde verwundet, reiste dann nach Paris, traf 
dort Courbet und sammelte iene Erfahrungen, 
die später für seine Kunstbetrachtungen wesent- 
lich werden sollten. In Berlin wurde er an das 
„Preußische Statistische Seminar" berufen und 
begründete 1867 den „Parlamentsalmanach" und 
1868 die „Annalen des Norddeutschen Bundes 
und des Zollvereins". Für Preußens Handels- 
28 
 
4- i- 4, m, 
5 
ministerium bereiste er England. Während die- 
ser Phase reifte der Plan, eine große liberale 
Zeitung in Berlin herauszugeben. Zunächst war 
Hirth iedach in der Zeit des Krieges von 1870171 
politischer und Handelsredakteur bei der „Augs- 
burger Allgemeinen Zeitung". 
Durch die Heirat mit Elise Knorr, der Tochter des 
Herausgebers der namhaften liberalen „Münch- 
ner Neuesten Nachrichten", kam Hirth nach 
München. Hier arbeitete er wieder als Redakteur. 
Er fand sich in der konservativen und provinziel- 
len bayrischen Hauptstadt schnell zurecht. Da- 
mals regierte noch der legendäre Ludwig ll., der 
sich leidenschaftlich für Richarid Wagners Kunst 
eingesetzt und durch seine Schloßbauten in heil- 
Iose Schulden gestürzt hatte. 
Durch den Tod seines Schwiegervaters wurde 
Hirth Leiter und Mitbesitzer der wichtigsten 
Münchner Tageszeitung. Bereits zu diesem Zeit- 
punkt war es dem flexiblen und liberalen, dem 
wendigen und fortschrittlichen Journalisten aus 
Preußen gelungen, sich eine Art Schlüsselstellung 
im kulturellen und geistigen Leben Münchens zu 
erwirtschaften. Sein Einfluß als bedeuten-der 
Mann der Presse machte ihn auch politisch inter- 
essant. Hirth war Anhänger Bismarcks. Er ver- 
trat die Idee vom einheitlichen Deutschen Reich. 
Der „Zugereiste" wollte das bayrische Mißtrauen 
Berlin gegenüber zerstreuen. Bayern sollte fähig 
werden, im Reich „mitzuregieren". - Bedeuten- 
der aber sind Hirths Anregungen für das Ver- 
 
4 H. Eichradt, Vignette zu „Am Straßengr 
von Emil Kleen. „Jugend", Nr. 13, 1897, 
5 M. Feldbauer, „Orchideen". „Jugend", I" 
1896, S. 469 _ 
6 Louis (Lovisi Corinth, Vignette zu „Einige ' 
für Briefschreiber und Briefemofönger" va 
tor Ottmann. „Jugend", Nr. 28, 1896, S. 45t 
Anmerkungen 1-6 
IW. Zils, Geistiges und künstlerisches München in 
biographien, München 191a, s. 177. Hirth „war e 
Genie des Verlagswesens. Ein Mann voller V 
neuer Ideen und Enthusiasmus, der in gewissem Si 
gutmütigen riria optimistischen süddeutschen Liber 
mit seinem fundamentalen Glauben an den Fo 
und seiner leicht sentimentalen Liebe für Kunst un 
heit personifizierte". (Franz Schonberner, Confess 
a European Intellectuol, New York 1946, S. 159; zit 
Linda Koreska-Hartmonn, Jugendstil-Stil - Stil d: 
gend", München 1969 l: dtv 583, S. 31]). 
1 Max Halbe, Jahrhundertwende, Danzig 1935, S. 352. 
Jln diesem Zusammenhang sei beispielsweise ve 
auf: Hermann Brach, Hofmannsthal und seine Ze 
Hilf: Egon Friedell, Ecce poeto; und E. Friedell, 
geschichte der NEUZEIt. 
' L. Koresko-Hartmann, Jugendstil, a. a, 0., S. 34 i 
Buch enthält eine Vielzahl sehr wertvoller und inf 
ver Hinweise. Es gibt erschöpfend Auskunft ük 
„Jugend". 
sEugen Roth, 100 Jahre Humor in der deutschen 
Hannover 1957, S. H. 
f" L. Koreska-Hartrnann, Jugendstil, a. a. 0., S. 35. 
kehrs- und Schulwesemgewesen. Aus Mü 
wollte er eine Großstadt machen. Dazu I 
die kleine Residenz großzügig modernisiei 
verschönert werden. Folgerichtig setzte e 
engagiert für die Einführung des Telefor 
(Hirth bekam die Rufnummer 1), für die e 
sche Beleuchtung, Kanalisation, die Pflast 
und die Freilegung des Doms. 
Hirths Abkehr vom Politischen und Soziale 
in die Zeit um 1878. Offenbar war er entti 
und hatte resigniert. Jedenfalls beschöftig 
sich nun intensiv mit der Kunst, aber au: 
den Naturwissenschaften. München als das 
Zentrum verschiedener künstlerischer Bew 
gen mag zu dieser Wendung beigetragen h 
In Bayerns Hauptstadt ließen sich immer 
Kunstliebhaber nieder, und damit auch - 
man so will - Künstler. Diese Atmosphöri 
Humus für Hirths Begeisterungsfähigkeit fi 
Schöne und Große. „Die künstlerische Ausg 
tung meines Lebens und meiner publizisti 
Tätigkeit, aber auch die künstlerische Nc 
meinen naturwissenschaftlichen Arbeiten, r 
ich meinem vierzigjährigen Münchnerfur 
gute". So charakterisierte er sich selber. „( 
Hirth hatte es frühzeitig in den Journalismi 
trieben, für den er außer seiner angeba 
Rührigkeit, Helligkeit, Anpassungsföhigk 
auch noch reiche Schätze erworbenen Wi 
allseitiger Bildung mitbrachte", schrieb 
Halbe?
	        
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