Forderungen; er mußte nicht erst im nachhinein
benannt werden. Dem Gestern mit all seinem
Gerümpel, das man nicht mehr mitschleppen
wollte, kehrte man entschieden den Rücken. Die
Absage an den Historismus formulierte Otto
Wagner; „Es findet keine Renaissance der Re-
naissance statt, sondern eine Naissance." Es
galt, heute zu leben. Man freute sich der Frei-
heit, genoß eine Carpe-diem-Einstellung, feierte
die allgemeine Aufbruchsstimniung. Und dem
Margen sah man hoffnungsvoll entgegen. Es gab
sehr viel Idealismus und zuviel Utopie. Die be-
wegte Linie war Leitmotiv und zugleich wesent-
liches Gestaltungsmittel des neuen Stils. Mit
voller Absicht stützte er sich sowohl auf die No-
tur als auch auf die Geometrie. Einziges Krite-
rium und Thema war das Leben, also nicht mehr
die Kunst. Um einen neuen lsm-us ging es nicht.
„Das Gestern ist nur ein Schatten im Licht des
Heute, das vom Morgen träumt", definierte Groß-
herzog Ernst Ludwig. Er hatte 1899 sieben Künst-
ler nach Darmstadt geholt; Olbrich, den berühm-
ten Architekten, die Maler und Graphiker Hans
Christiansen und Peter Behrens, den Innenaus-
statter Patriz Huber, Paul Bürck, dessen Haupt-
gebiete Kunstgewerbe und Buchschmuck waren,
und die Bildhauer Ludwig Harlich und Rudolf
Bosselt. Der hessische Landesvater und seine
Künstler waren alle kaum älter als dreißig Jahre.
Ein relativ hohes Gehalt und keinerlei Lehrver-
pflichtung lockten. Das neue Programm sollte in
der Gemeinschaft geprobt und praktiziert wer-
den. In der von den Künstlern selbst gestalteten
Darmstädter Kolonie, in den Häusern auf der
Mathildenhöhe wurden keine Kunstwerke in
Teamwork geschaffen, die dann museal hätten
ausgestellt werden sollen. In der Totalitöt ihres
Konzepts wollte die Siedlung (Architektur, Gar-
tengestaltung, Innenausstattung, Gebrauchsge-
genstände) die Kriterien des neuen Stils demon-
strieren: „Ein Dokument deutscher Kunst." Will
man Jugendstil in der Literatur nicht von vorn-
herein verneinen, dann muß aber deutlich einge-
grenzt werden: Die Literatur wird vorn Dekor
aufgesogen, sie wird selbst ornamental. Das zei-
gen ganz unmißverstöndlich beispielsweise die
für den Jugendstil typischen Zeitschriften „Pan"
und „Jugend", die dokurnentarisch belegen, wie
ambivalent und exquisit ienes Stilwollen sein
konnte.
Der Mann, der die „Jugend" gründete
Am 3. Juli 1841 wurde im thüringischen Gräten-
tonna Georg Hirth geboren. Im Alter von acht-
zehn Jahren veröffentlichte er dort sein erstes
Buch im Selbstverlag und anonym: „Friedrich
Schiller als Mann des Volkes." Ein Erfolg, und
Hirth avancierte zum Mitarbeiter von „Wester-
monns Monatsheften" und der „Gartenlaube".
Das war wohl sein entscheidender Schritt in
Richtung „Jugend", denn hier, bei Ernst Keil, dem
Gartenlauben-Hera-usgeber, wurde er Sekretär.
Hirth studierte Geographie, Statistik und Natio-
nalökanomie. In Jena promovierte er 1863. Der
junge Volkswirtschiaftler trat engagiert und voller
Idealismus für die deutschen Einigungsbestrebun-
gen ein. Die Freiheitlichen Ideen begeisterten
ihn, aber seine nationale Einstellung lenkte ihn
in den Bereich der deutschen Turnbewegung. Er
redigierte drei Jahre lang die Leipziger „Deut-
sche Turnzeitung". Für Preußen kämpfte er 1866,
wurde verwundet, reiste dann nach Paris, traf
dort Courbet und sammelte iene Erfahrungen,
die später für seine Kunstbetrachtungen wesent-
lich werden sollten. In Berlin wurde er an das
„Preußische Statistische Seminar" berufen und
begründete 1867 den „Parlamentsalmanach" und
1868 die „Annalen des Norddeutschen Bundes
und des Zollvereins". Für Preußens Handels-
28
4- i- 4, m,
5
ministerium bereiste er England. Während die-
ser Phase reifte der Plan, eine große liberale
Zeitung in Berlin herauszugeben. Zunächst war
Hirth iedach in der Zeit des Krieges von 1870171
politischer und Handelsredakteur bei der „Augs-
burger Allgemeinen Zeitung".
Durch die Heirat mit Elise Knorr, der Tochter des
Herausgebers der namhaften liberalen „Münch-
ner Neuesten Nachrichten", kam Hirth nach
München. Hier arbeitete er wieder als Redakteur.
Er fand sich in der konservativen und provinziel-
len bayrischen Hauptstadt schnell zurecht. Da-
mals regierte noch der legendäre Ludwig ll., der
sich leidenschaftlich für Richarid Wagners Kunst
eingesetzt und durch seine Schloßbauten in heil-
Iose Schulden gestürzt hatte.
Durch den Tod seines Schwiegervaters wurde
Hirth Leiter und Mitbesitzer der wichtigsten
Münchner Tageszeitung. Bereits zu diesem Zeit-
punkt war es dem flexiblen und liberalen, dem
wendigen und fortschrittlichen Journalisten aus
Preußen gelungen, sich eine Art Schlüsselstellung
im kulturellen und geistigen Leben Münchens zu
erwirtschaften. Sein Einfluß als bedeuten-der
Mann der Presse machte ihn auch politisch inter-
essant. Hirth war Anhänger Bismarcks. Er ver-
trat die Idee vom einheitlichen Deutschen Reich.
Der „Zugereiste" wollte das bayrische Mißtrauen
Berlin gegenüber zerstreuen. Bayern sollte fähig
werden, im Reich „mitzuregieren". - Bedeuten-
der aber sind Hirths Anregungen für das Ver-
4 H. Eichradt, Vignette zu „Am Straßengr
von Emil Kleen. „Jugend", Nr. 13, 1897,
5 M. Feldbauer, „Orchideen". „Jugend", I"
1896, S. 469 _
6 Louis (Lovisi Corinth, Vignette zu „Einige '
für Briefschreiber und Briefemofönger" va
tor Ottmann. „Jugend", Nr. 28, 1896, S. 45t
Anmerkungen 1-6
IW. Zils, Geistiges und künstlerisches München in
biographien, München 191a, s. 177. Hirth „war e
Genie des Verlagswesens. Ein Mann voller V
neuer Ideen und Enthusiasmus, der in gewissem Si
gutmütigen riria optimistischen süddeutschen Liber
mit seinem fundamentalen Glauben an den Fo
und seiner leicht sentimentalen Liebe für Kunst un
heit personifizierte". (Franz Schonberner, Confess
a European Intellectuol, New York 1946, S. 159; zit
Linda Koreska-Hartmonn, Jugendstil-Stil - Stil d:
gend", München 1969 l: dtv 583, S. 31]).
1 Max Halbe, Jahrhundertwende, Danzig 1935, S. 352.
Jln diesem Zusammenhang sei beispielsweise ve
auf: Hermann Brach, Hofmannsthal und seine Ze
Hilf: Egon Friedell, Ecce poeto; und E. Friedell,
geschichte der NEUZEIt.
' L. Koresko-Hartmann, Jugendstil, a. a, 0., S. 34 i
Buch enthält eine Vielzahl sehr wertvoller und inf
ver Hinweise. Es gibt erschöpfend Auskunft ük
„Jugend".
sEugen Roth, 100 Jahre Humor in der deutschen
Hannover 1957, S. H.
f" L. Koreska-Hartrnann, Jugendstil, a. a. 0., S. 35.
kehrs- und Schulwesemgewesen. Aus Mü
wollte er eine Großstadt machen. Dazu I
die kleine Residenz großzügig modernisiei
verschönert werden. Folgerichtig setzte e
engagiert für die Einführung des Telefor
(Hirth bekam die Rufnummer 1), für die e
sche Beleuchtung, Kanalisation, die Pflast
und die Freilegung des Doms.
Hirths Abkehr vom Politischen und Soziale
in die Zeit um 1878. Offenbar war er entti
und hatte resigniert. Jedenfalls beschöftig
sich nun intensiv mit der Kunst, aber au:
den Naturwissenschaften. München als das
Zentrum verschiedener künstlerischer Bew
gen mag zu dieser Wendung beigetragen h
In Bayerns Hauptstadt ließen sich immer
Kunstliebhaber nieder, und damit auch -
man so will - Künstler. Diese Atmosphöri
Humus für Hirths Begeisterungsfähigkeit fi
Schöne und Große. „Die künstlerische Ausg
tung meines Lebens und meiner publizisti
Tätigkeit, aber auch die künstlerische Nc
meinen naturwissenschaftlichen Arbeiten, r
ich meinem vierzigjährigen Münchnerfur
gute". So charakterisierte er sich selber. „(
Hirth hatte es frühzeitig in den Journalismi
trieben, für den er außer seiner angeba
Rührigkeit, Helligkeit, Anpassungsföhigk
auch noch reiche Schätze erworbenen Wi
allseitiger Bildung mitbrachte", schrieb
Halbe?