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Full text: Alte und Moderne Kunst XXII (1977 / Heft 150)

A Künstlerprofile Gisela Beinrücker 
 
Mit ihren neuen Materialbildern setzt Gisela Bein- 
rücker ihren einmal eingeschlagenen Weg konse- 
quent fort. Statt Gegenstände ihrer Umgebung 
zu zeichnen, Kleidungsstücke zu personifizieren, 
bedient sie sich ihrer ietzt direkt. Verschiedenfarbige 
Nylonstrümpfe werden auf eine Leinenunterlage 
collagenartig montiert, jedoch nicht geklebt, sondern 
angenäht. Oftmals wird dazu noch unter bzw. auf 
den Strümpfen aquarelliert, was dem eigenwilligen 
Material einen zusätzlichen Reiz verleiht. Die 
Gefahr, sich in der spinnwebenartigen Oberfläche 
zu verfangen, fasziniert und ängstigt den Betrachter 
gleichermaßen. Die Fertigkeiten, die sich eine Frau 
gezwungenermaßen aneignen muß, wendet Gisela 
Beinrücker nicht für „wertfreie, nutzlose Arbeiten" 
an, wie z. B. Knöpfe anzunähen und Löcher zu 
stopfen, sondern für ihre Materialbilder. 
Eine Frau zu sein ist eine anatomische Tatsache, 
die nicht unerhebliche Konsequenzen gesellschaft- 
licher Natur mit sich zieht: Der Frau präsentiert sich 
eine primär männliche Umwelt und zwingt sie, 
sich darin zurechtzufinden, Stellung zu beziehen. 
Wenn eine Frau einen weiblichen Akt zeichnet, so 
ist das etwas anderes als ein weiblicher Akt, von 
einem Mann gezeichnet - denn der weibliche Akt 
(von der Frau gezeichnet) ist ihr eigener Körper, 
ihr eigener Schmerz - leidenschaftig. 
Gisela Beinrücker nimmt ihre Umwelt nicht so ohne 
weiteres hin, sie macht sich Gedanken, sie versucht 
zu lernen, sie reflektiert - sie ist sich ihrer „Rolle" 
als Frau bewußt und trägt ihr konsequenterweise 
in ihren Arbeiten Rechnung. Denn Frau zu sein und 
sich dessen bewußt zu sein, heißt noch lange 
nicht, männerfeindlich zu sein - auch eine klassenlose 
Gesellschaft ist keine geschtechtslose Gesellschaft. 
Veränderungen verursachen Kreativität - Kreativität 
bewirkt Veränderungen. Indem sie lernt, verändert 
sie sich. Denn: nichts ist abgeschlossen, weil man 
„selbst nie abgeschlossen ist". Diese „provisorische 
Gegenwart" bildet für Gisela Beinrücker den Motor 
zur Kreativität. „Jeder Tag bringt etwas Neues." 
Sie hat ihre Kreativität spät verwirklicht - ihre 
Kreativität hat eines Reifungsprozesses als 
Voraussetzung bedurft. 
Sind die Arbeiten Gisela Beinrückers auch „weib- 
lich", so sind sie doch weit von dem entfernt, was 
man als „Frauenkunst" bezeichnet. Emanzipation 
wird bei ihr nicht so verstanden, daß die Frau 
trachtet, es dem Mann gleichzutun, sondern iede 
Erfahrung ist ein Schritt näher der angestrebten 
Selbstverwirklichung: Die Frau emanzipiert sich 
zur Frau. 
Um sich bildnerisch auszudrücken, ist es gleich- 
gültig, ob es sich um eine Bluse, um Strümpfe oder 
um einen Baum handelt. Sie wählt die Bluse und die 
Strümpfe, weil sie ihr näher, mit ihr in Kontakt sind. 
Außerdem: Die Bluse läßt sich gestalten, was bei 
einem Baum nicht der Fall ist. 
Die Bluse, die Strümpfe können eine Person an- 
nehmen. Die Person besteht aus Zeichenpapier und 
Graphit - aus Nylonstrümpfen und Leinen... Der 
Fetisch „Strumpf" hat sich zum Lebewesen ver- 
selbständigt. Der „verunfallte Giehversuch" ist 
Persiflage und zugleich Sublimation der eigenen 
Situation. Der Busen als Kopf wird zur aggressiven 
Waffe - weiblichen Waffe; die „tanzende Figur" 
ist zugleich Beschwörung und Beschwichtigung - 
Selbsterhaltungstrieb und Selbstironie („lroniel 
lrr-Onanie"). Im Zerreißen sowie im Zusammen- 
nähen der Strümpfe manifestiert sich diese 
Ambivalenz der Arbeiten Gisela Beinrückers, was 
deren Faszination und Reiz ausmacht. 
Manfred Chobot 
  
1 „Ein Gedanke", 1'776. 60 x 45 cm. 
Textiles Materiolbild 
„Vielleidit Morgen", 1975. Blei- 
stift, 85 x 62 5 (m 
i ückerrFleck 
"Besudn , 1976. IOOx 70 cm. Tex- 
tiles Materialbild 
„9uchendes", 1976. 100x7O cm. 
Textiles Materialbild 
„Exotischer Tanz", W76. 85 x 62,5 
cm. Textiles Materialhild 
 
o-uisum 

	        
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