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abhebenden Ornamenten dem Auge die Fähig-
keit, von einer Ebene aus auf eine andere zu
schauen, durchzudringen und damit „Raum" zu
empfinden. Das Auge sieht, wie man es nannte,
gleichsam durch ein Fenster hindurch. Der Effekt
stellt sich natürlich nur dann ein, wenn der
Künstler selbstauch so sah und sein„Gesicht" im
echten Kunstwerk zur Aussage zu gestalten ver-
stand. Eine mechanische Nachahmung kann den
Effekt nicht hervorrufen. Wie die Stilkopien aus
dem 19. Jahrhundert beweisen, kann die echte
Aussage nicht ersetzt werden, sie gehört zu den
Kriterien des Kunstwerkes.
Das Phänomen des Tiefensehens gilt auch für
die verschiedenen Farbtönungen, welche den
lnnenstern unseres Seidenteppichs decken. Der
Blick in die Tiefe (einer Kuppel) wird hier zu-
sätzlich durch die überreiche Fülle der so ange-
ordneten Lanzettblätter aufgefangen und hin-
durchgeleitet.
Ein gewichtiger Faktor, der die Bildung geometri-
scher Ornamente begünstigte, war die Religion.
Sie überschattete iegliches philosophische Den-
ken im Orient. Sie gebot, die Darstellung von Le-
bendem zu meiden. Den Hinweis darauf leitete
man aus einer Überlieferung bei Buchari (810-
870) ab. An der Stelle wird in einer Anekdote
berichtet: „Ich war bei lbn Abbas (619-688,
ein Vetter des Propheten Muhammad) - Allah
hatte seine Freude an ihm. Siehe, da kam ein
Mann und sagte: O lbn Abbas, siehe, ich bin
ein Mensch und lebe van der Kunst meiner Hände.
Siehe, ich habe dieses Bildnis gemacht! lbn Ab-
bas entgegnete: Ich kann dir nur sagen, was
ich vom Propheten - Heil und Segen Allahs über
ihn - hörte. Und er sagte: Wer ein Bildnis macht,
siehe, den bestraft Allah, bis er dem Bildnis
Geist einhaucht - und er wird ihm nimmermehr
Geist einhauchenl Da röchelte der Mann und
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2 Detail vom Zentralstern des Seidenteppichs. Die
Lanzettblätter lassen den Blick hineingleiten,
die Schirmblättchen sind nach „innen" gerichtet,
d. h. sie sollen die Vorstellung vom „Gerode-
auf-Sehen" unterstützen und das Auge in die
Tiefe [oder Höhe) einer (Sternen-lKuppel leiten.
3 Die Wiedergabe der architektonischen Idee ist
hier vereinfacht: die „Kuppel" wird nicht von
einem Achteckstern, sondern von einem Okto-
on (Achteckl umschlossen. Wirkungsvoll die
ontraste im Zentrum, welche den Blick in das
Ferne, Dunkle ermöglichen.
Teppich, handgeknüpft, mit Oktogon und Ster-
nen. Kette, Eintrag, Knüpfung: Schafwolle, per-
sischer Knoten, 1 dmi a 1400 Knoten. Drei
Farben. Ägypten, 16. Jahrhundert.
Länge : 260 cm, Breite : 240 cm (Teilansicht).
Wien, Österreichisches Museum für angewandte
Kunst, lnv.-Nr. T 8346.
Lit.: Sarre-Trenkwald, Altarientalische Teppiche l,
Wien 1926, Taf. 47.
4 Die „Zacken" des Achtecksternes lassen in den
Umrissen deutlich das fromme Motiv der Zier-
nischen hervortreten. im Zentrum ist die Absicht
unverkennbar, dem Blick die Durchsicht durch
die Tiefe eines Gewölbes zu gewähren.
Teppich, handgeknüptt, mit Sternen. Kette, Ein-
trag, Knüpfung: Wo le, persischer Knoten, 1 dm?
o 1300 Knoten.Drei Farben.Ägypten,16..lahrhun-
dert. Länge : 316 cm, Breite I 252 cm. Wien,
Österreichisches Museum für angewandte Kunst,
lnv.-Nr. T Ki45.
Lit.: Sarre-Trenkwald,Altorientalische Teppiche l,
Wien 1926, Taf. 48.
Anmerkungen 12,13
"In den sahih des Buchari, kital: ul-buiu, Kapitel 40,
Vers 104. - Die Stelle erwähnt bei Muhommed Abdal-
oziz Marzuq, at-tanafis ul-iadwiiiaJ, B0 dad 1969, S, 31.
"Vergleiche z. B. Biir Faris, sirr ül-lültfü?ü.f al-islamiiiaJ,
Kairo 1952, S. 31 tf.
sein Gesicht wurde gelb. lbn Abbas sprac
ter: Hast du es unbedingt tun wollen, s:
es an dir! Greite diesen Baum an - niem
Geist darin"l"
Es gibt auch noch andere Stellen, die Hi:
enthalten und dahingehend kommentiertw
Man kennt sie" und benutzt sie als Quel
dem vielumstrittenen Bilderverbot im Islar
Orient selbst deutet sie nur als Hinweis
Anregungen. Sei es wie immer, die geome
Ornamentik kam dem weitgehend entgegen
vermied damit Mißbilligung.
Zudem konnte man der Darstellung von S
- wie an unseren Teppichen - jederzeit glL
heißenden 5' n unterlegen.
Zu dem religiös Gebatenen gesellten Sli
Winke, welche man aus dem Material
Geometrische Motive sind uralt. Die Gest
von Senkrechten und Waagrechten bietet s
Geweben durch den Verlauf von Kettfäde
Eintrag (Schuß) von selbst an. Sicher sir
primitivsten Ornamente auf diese Weise
worden. Im Laufe der Zeit hat man danr
schritte gemocht. In der Seldschukenzeit I
wie die erhaltenen Fragmente beweisen, g
trische Motive geblüht. Was Ägypten betr
war das Denken dort seit alters her dur
Geometrie („Londmessung") bestimmt gei
Das Vermächtnis der Pyramiden bildet
ieher eine stumme Mahnung dazu, geom
zu denken. Dieser Aufforderung hat sit
Kunst in Ägypten nie entzogen. Selbst die
lerische Revolution, die durch die Grieche
beigeführt wurde, hat die Grundlage nic
sentlich verändert. Wohl hat die koptische
um eigene Ausdrucksformen gerungen. Sie
die individualistischen, auf die Wiedergal
Bewegung und des Augenblicks gerichteti
strebungen der Griechen zu bewältigen