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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXII (1977 / Heft 151)

Die Völker am Rande der Meere, in ganz beson- 
derem Maße rings um das Mittelmeer, blickten 
schon sehr früh mit besonderer Aufmerksamkeit 
auf die Muscheln, die nach starkem Wellengang 
oder gar einem Seesturm am Strande umher- 
lagen - die steinharten Hüllen von Weichtieren, 
von geheimnisvollen Kröften geformt. Von einem 
transzendeten Wesen gesteuert, Ausdruck 
eines in unendlich vielen Gestaltungsmöglichkei- 
ten wirkenden Schöpfungswollens. Hatte man 
gelernt, daß auch sie ein wertvolles Nahrungs- 
mittel bis zum heutigen Tage geblieben sind, 
waren für iene alten Kulturen die Muscheln 
Werke der Meergottheiten. 
Meermuscheln wurden schon früh auch religiöses 
Symbol; 
In lndien ist heute noch die höchst seltene, nach 
links gewundene „Turbinella pyrum" ein heiliges 
Attribut des Gottes Vishnu. ln Gold gefaßt und 
mit Edelsteinen verziert, war sie noch vor kurzem 
ein Ehrenzeichen des Radschas von Travan- 
core und erschien noch im vergangenen Jahr- 
hundert auf deren Münzen. Das republikanische 
lnden hat diese Seeschnecke unter seinen Schutz 
genommen, und auch derzeit ist die Ausfuhr 
auch nur eines einzigen Exemplares verboten 
und sind diesbezügliche Versuche strafbar - 
was zur Folge hat, daß diese heilige Schale zu 
den gesuchtesten Sammelobiekten gehört. 
Hellenische Mythographen ließen Aphrodite, die 
„Schaumgeborene", einer offenen „Cardium"- 
Muschel entsteigen, bis Botticelli sie auf einer 
halben „Pecten" wie in einem Kahn stehend 
dem Strand von Paphos auf Zypern sich nähernd 
darstellte. Man verweile kurz vor den Ständen 
des Fischmarktes der kleineren Hafenstädte im 
südlichen und östlichen Mittelmeer, wo neben 
grobschlöchtigen Austern und anderen unansehn- 
licheren Muscheln auch fein ziselierte und leuch- 
tend gebünderte „Cardium venus" nebst anderen 
„Frutti di mare" auf Feinschmecker warten und 
lasse sich eine Venusmuschel öffnen, um mit 
unerwartetem leisen Schauer die uralten Beza- 
genheiten auf die Liebesgöttin zu erkennen. 
Muschelschalen haben in vergangenen Erdzeit- 
altern zur Bildung der Sedimentgesteine in möch- 
tigen Schichten beigetragen. Gesteine, mit denen 
sich auch der Kunsthistoriker gelegentlich kan- 
frontiert sieht, wenn er über marmorne Fußböden 
wandelt, an den Blöcken von Bauwerken ver- 
weilt: Ammonitenkalke, Muschelkalke zeigen ihre 
Einschlüsse - so beispielsweise auf den Straßen 
und Plätzen und in den Kirchen von Verona. 
Über tieferen Meeresboden streifende Netze 
brachten und bringen noch heute auch die 
Riesen unter den Schnecken des Mittelmeeres 
zutage: die elegant gezeichnete „Tritan nodi- 
fer" und die bauchige „Dolium" in leicht vari- 
ierenden Arten. Von der klassischen Tritonmu- 
schel sind Exemplare bis zu einem halben Meter 
Länge gefischt worden. Während die plumpere 
„Dolium" van den Künstlern Griechenlands und 
Roms so gut wie unbeachtet blieb, trat die Tri- 
tonmuschel einen wahren Triumphzug an. Den 
Auftakt gaben die Fischer: man schlug die Spit- 
ze der Spirale weg, um das Gehäuse als Signal- 
horn zu benutzen, dessen tiefe Tonlagen leicht 
über die Wasserflöche sich ausbreiten und auch 
heute noch, bei Nacht, gehört werden können. 
Mit einer Stütze versehen, dienen sie in einfachen 
Haushalten als Wasser- oder Weinkrüge: ein 
0,40 Meter langer „Tritan" in der Sammlung des 
Verfassers enthält genau eineinhalb Liter; bei 
völlig ausgewachsenen Exemplaren erreicht das 
Fassungsvermögen leicht zweieinhalb Liter, und 
„Dolium" steht nur wenig nach. Für die Künstler 
waren die Triumphzüge der Nereiden und Trito- 
nen nur mit Muscheltrompeten denkbar, womit 
sie das Rauschen der Wellen begleiteten; Wand- 
gemölde, Mosaikfußböden, gelegentliche Plasti- 
ken überraschen immer wieder durch den Reich- 
tum der Einfälle. 
Die Kunst des Barock konnte sich nicht genug tun, 
die Meermuscheln immer wieder als reiches Mo- 
tiv zu verwenden - allen voran Gianlorenzo Ber- 
nini an den rauschenden monumentalen Brun- 
nen Roms. Sicherlich wurde diese Kunstströmung 
angeregt von den ersten Importen aus den 
Meeren des Fernen Ostens, denen sich auch die 
Kunst- und Wunderkammern königlicher und fürst- 
licher Sammler erwartungsvoll öffneten. Aber 
auch auf diesem Gebiet war die Antike voraus- 
gegangen; immer wieder fördern die Grabungen 
in Pompeji große Exemplare von „Triton", „Doli- 
um", „Cassis" und „Cypraea" zusammen mit den 
immer schönen und auch beim Tischgedeck prak- 
tischen „Pecten iacabaeus" zutage. Nach üppi- 
gen Muschelmahlzeiten gab der Hausherr gele- 
gentlich Weisung, die Schalen nicht zum Abfall 
zu werfen, sondern sie gereinigt einem Kunst- 
handwerker zu übergeben, der gerade beschäf- 
tigt war, im Garten des Freilufttrikliniums eine 
bunte Brunnennische aufzubauen und neben 
den blauen und grünen Glasmosaiken auch die 
Muscheln als Form- und Farbkontrast zu ver- 
werten. 
Auch diesen Gedanken hat später die italienische 
Renaissance wieder aufgegriffen, als aus dem 
Roten Meer und von den ostarabischen Küsten 
Perlmutterschalen in größeren Mengen auf dem 
Kuriositätenmarkt erschienen: das Gewölbe des 
Venus-Kabinetts im Palazzo degli Uffizi in Flo- 
renz wurde mit diesen hellschimmernden Schalen 
verkleidet; an der „Fontana dell'Organo" in 
der Villa d'Este zu Tivoli leuchten in der Nach- 
mittagssonne Perlmutterrosetten. Im „Brunnen- 
hof" des Residenzpalastes zu München fand diese 
naive Freude an den seltsamen Naturgebilden 
ein nardisches Echo, das lange nachklingen 
sollte'. 
Die Pilgerscharen des Mittelalters ließen durch 
besondere Abzeichen das Ziel ihrer Heilsfahrt 
erkennen: an den Sammelpunkten für die Wan- 
derung an die Grabstötte des heiligen Apostels 
Jacobus zu Compostela in Galicien, im fernsten 
Nordwesten Spaniens, erwarben die Gläubigen 
den „Pecten iacobaeus": die fast flache obere 
Schale wurde der Hutkrempe aufgenöht, die ein- 
gewölbte tiefe Unterseite so am Pilgermantel 
befestigt, daß sie in iedem Moment als Schöpf- 
kelle an einem Brunnen benutzt werden konnte. 
Diese Kleinkunstwerke der Natur haben iüngst 
Anmerkungen 1-3 
'Diese Made griff zunächst nach Frankreich über: ein 
Pavillon im Sthlaßgarten van Rambauillet wurde im Auf! 
mm des an: d, Pentievre im seine Sdiwiegertadiier 
Princesse de Larnballe errichtet: alle Ardvitekturteile 
sind mit Meerrnuscheln inkrustieri, während bunte Kiesel- 
steine die Fußböden beleben. ln England ließen weit- 
gereisie Lords im 1B. Jahrhundert ihrer Freude am 
exotischen Seegetier die Zügel gehen. Sieben Jahre 
brauchten die zweite Duchess af Richmand und ihre 
sieben Töchter, um einen Pavillon in Goadwaod Park, 
Sussex, sehr geschmackvoll mit tausenden van Muscheln 
zu lieren, wabei der Familienvater aft mithalf. Eine un- 
gewöhnlich schöne „Shell-grattoe" in Oatland's Park in 
ondan wurde leider zu Anfang dieses Jahrhunderts ab- 
gebradien. ln dieser „Shell-grattae" veranstaltete lord 
Wellinglon für die Milsiegar in der Sdilachl bei Waterloo 
einen großartigen Empfang, allen voran dem Zaren von 
Rußland. Diese Mode war in England nadi zu Anfang des 
19. Jahrhunderts weit verbreitet. R. Cameron, ap. cii. S. 
16-19, Abb. S, 20. 
3 P. Pinari, The shape af shells, „La Canchiglia" 7, 1975, 
Nr. 70179 und 80151, mit zahl eichen sdiematisdien 
Zeichnungen. - Der in dieser Hinsicht angeregte Leser 
betrachte einmal in einem naturwissensdlaftlidiun Museum 
oder bei einem befreundeten Sammler die Muschel der 
Meerschnecka „Architectonica perspecliva" von der Kehr- 
seite her unter einem Vergrößerungsglas: die fein gerie- 
felta Hahlspirale scheint in weiter Ferne in einem Null- 
punkt sich zu verlieren - daher der interessante Name. 
Wiederum mit dem Glase sehe er sich die Sdiale des 
„Clanculus pharaanis" an: die wie von einem etruski- 
schon Goldschmied grunulierte Oberfläche zeigt wie 
 

	        
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