IV (Abb. 3a)
In der Folge sollen einige wesentliche Unter-
schiede dieser Werke aufgezählt werden. Ihnen
ist vieles gemeinsam, doch ist keine eine Re-
plik oder gar Kopie des anderen. Bei allen drei
Beispielen (Abb. 11, 12 u. 13) strömt die Masse
der Figuren aus einem Stadttor heraus und
drängt sich von links nach rechts, wobei Chri-
stus mit dem Kreuz in der Bildmitte innezuhal-
ten scheint. Er unterbricht gewissermaßen den Be-
wegungsfluß. Dabei zeigt die Grazer Tafel ein
sehr starkes Gedränge der Figuren. Die Bild-
architektur ist bei allen drei Tafeln sehr ver-
schieden. Die einfachste Ausführung zeigt das
Grazer Beispiel, eine Staffelung von Bauteilen
erkennt man in der Wiener Tafel, die Welser
„Kreuztragung" zeigt sogar ein perspektivisch
versetztes Türmchen und zwei Bäume. Frappant
öhnlidi sind die Bewegungsmotive und Gesten
des hinter Christus schreitenden Mannes auf der
Welser und Grazer Tafel. Man wird wohl die
Anteile des Hauptmeisters mehr herauskristalli-
sieren müssen und anderseits die Werkstattan-
teile zu trennen versuchen.
Selbstverständlich sollten auch andere für den
Hauptmeister gesicherte Werke, wie eine „Not
Gottes" in der Österreichischen Galerie in Wien,
näher diskutiert werden".
Eine vom „Votivtafelmeister" abhängige und
doch selbständige Persönlichkeit ist der Meister
der „Linzer Kreuzigung"5', dem man auch den
Namen „Meister des Andreasaltares" gegeben
hat". O. Benesch hat ihn mit dem „Votivtatel-
meister" identifiziert, für A. Stange ist er ein
direkter Nachfolger desselben". Zur „Linzer
Kreuzigung" (Abb. 14) - (Linz, OO. Landesmu-
seum) gehörten sehr wahrscheinlich, was von
O. Benesch einleuchtend dargestellt wurde",
vier Szenen aus der Leidensgeschichte Christi in
Troppau (Opava, CSSR)", ein „Einzug Christi in
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Jerusalem" und ein „Abendmahl" in Budapestss,
endlich eine „Gefangennahme Christi" und „Ver-
spottung" in Wien (Österreichische Galerie)".
Benesch hat jedenfalls die „Linzer Kreuzigung"
als reife und abgeklärte Schöpfung des „V_otiv-
tafelmeisters" bezeichnet. In dem Jahrzehnt, das
zwischen dem „Kreuzigungsretabel" aus St. Lam-
brecht (vergleiche Abb. 7) und der „Linzer Kreu-
zigung" liegt, haben sich Raum- und Körperge-
fühl sehr stark entwickelt. Der „Weiche Stil" ist
im letzteren Beispiel fast gänzlich überwunden,
Körper und Gewand beginnen ein eigenständi-
ges Leben, was wiederum nach um 1420 unmög-
lich schien. Zur Kompaktheit und realistischen
Robustheit dieser Tafel wäre zu sagen, daß die
Kenntnis der Werke des „Votivtafelmeisters"
wohl vorausgesetzt werden muß. Man könnte
sich ein Lehrer-Schüler-Verhältnis vorstellen.
Dem „Meister der Linzer Kreuzigung" sehr ver-
wandt ist der Schöpfer der sechs Glasgemälde
(vier in der Stiftsgalerie in St. Lambrecht; zwei
in der Alten Galerie, Graz). Die „Auferstehung
Christi" in Troppau etwa ist dem Glasgemälde
desselben Themas (Alte Galerie) in manchen De-
tails sehr verwandt, wenn man z. B. den vor
dem Grab liegenden Wächter ins Auge faßt.
Einige graphische Werke, Zeichnungen" und
Holzschnitte" wären an diesen Komplex von Ta-
felgemälden anzufügen, und ihr stilistisches Ver-
hältnis zueinander zu klären.
Der Übergang von der letzten Phase des „Wei-
chen Stils" zum „Realismus" der Jahrhundert-
mitte vollzog sich um 1450. Sa wendet sich der
Meister des „Martinsaltares" (Abb. 15) - (Graz,
Alte Galerie) noch einmal zurück und kompri-
miert ein letztes Mal alle Errungenschaften".
Am besten repräsentiert wird diese stilistische
Wende, bei der westliche, niederländische Ein-
flüsse die Vorherrschaft zu übernehmen begin-
nen, durch den Altarflügel mit dem „H1. Os-
wald", bei dem es schon Anklänge an Konrad
Witz" gibt. Die Charakteristika der Tafelmalerei
der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts heraus-
zuarbeiten, soll einer anderen Untersudiung vor-
behalten sein. Auf die Blütezeit steirischer Kunst
um 1400 folgten Jahrzehnte der „chronischen
Abhängigkeit" (O. Pacht) von anderen Kunst-
landschaften und vor allem vom Wiener Kunst-
kreis. O. Benesch hat berechtigterweise auch von
„Grenzsituationen" gesprochen". Aber selbst
diese Jahrzehnte brachten durchaus originelle
Werke hervor. Erst um 1500 kann man wieder
von einer Blütezeit steirischer Malerei spre-
chen".
3a Madonna im Strahlenkranz
Votivtafel mit Abb. 3b), um 1420. 58x55,5 cm.
Graz, Alte Galerie am Joanneum (Leihgabe des
Stiftes St. Lambrecht). (Farbtafel IV)
3b Fragment einer Votivtafel, hl. Andreas, hl. Jo-
hannes und zwei Mönche, um 1410. St. Lambrecht,
Stiftsgalerie, 60,5 x 46 cm
(ursprünglich eine
Anmerkungen 46-63 (Anm. 46-49 s. Text S. 7)
u K. Oettinger, Hans von Tübingen, S. 6.
" Dieser wertvolle Hinweis stammt von Prof. Rasmo, Bozen.
Vgl. E. Kreuzer-Eccel, a. a. O., Abb. 20.
" A. Stange, Deutsche gotische Malerei, Abb. 75.
" G. Schmidt, Die österreichische Kreuztra ungstafel in der
Huntington Library, in: Usterr. Zeitschri t für Kunst- und
Denkmalpflege, 1966, S. 1 ff., Abb. 1.
"' E. Baum, a. a. O., S. 32, Kat.-Nr. 12, Taf. 10.
5' Siehe O. Benesch, Zur altösterreichischen Tafelmalerei, in:
Collected Writings, Bd. lll, S. 16 ff.
und: Neue Materialien zur altösterreidiischen Tafelmale-
rei, in: Collected Writings, Bd. lll, S. 77 ff.
5' K. Oettinger, Hans von Tübingen, S. 32 ff.
53A. Stange, Deutsche Malerei der Gotik, Bd. XI, S. 1B ff.
" O. Benesch, Neue Materialien
5' O. Benesch, Neue Materialien, Abb_ 81-86.
" A. Pigler, Katalog der Galerie Alter Meister im Museum
der bildenden Künste, Budapest 1967, S. 425 f., Tafel-
band, Abb. 333.
51 E. Baum, a. a. O., S. 61 ff., Abb. 33, 34.
5' O. Benesch, Österreichische Handzeichnungen, S. 35 f.,
Abb. W18, 19.
5' Vgl. E. Mitsch, Die Einblattholzschnitte, in: Europäische
Kunst um 1400, Kat. der Ausstellung, Wien 1962, S. 291,
Kot-Nr. 322, Taf. 156. .
" Vgl. G. Biedermann, a. a. O., S. 60 f.
" Ebenda, S. 64 f.
n O. Benesch, Grenzprobleme der österreichischen Tafel-
malerei, in: Collected Writirßs, Bd. lll, S. 101 ff.
"Vgl. P. Krenn, Der große ariazeller Wunderaltar von
1519 und sein Meister, in: Jahrbuch des Kunsthistorlschen
Instituts der Universität Graz, 1966167, S. 31 ff.
1:1 Anschrift des Autors:
Dr. Gottfried Biedermann
Kustos an der Alten Galerie des
Landesmuseums Joanneum
Kalchberggasse 4
A-BOIO Graz