Hans Koepf
Neue Ergebnisse der
Planrißforschung durch die
Publikation der Risse der
Ulmer Bauhütte
1 Ulm, Münster, Westturm, Riß A (Unterbau
fehlt). Museum der Stadt Ulm - Fragment (un-
terhalb) von der Vorhalle des Westturms des
Ulmer Münsters. London, Victoria and Albert
Museum
2 Straßburg, Münster, Westfassade. Nordhälfte
mit Turmaufbau des Ulrich von Ensingen. Bern,
Stodtmuseum
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Im Jahre 1977 feierte Ulm die 600-Jahr-Feier der
Grundsteinlegung seines Münsters, der größten
Bürgerkirche Europas mit dem höchsten Kirchturm
der Welt. Aus diesem Grunde hat die Stadt Ulm
dem Verfasser den Auftrag gegeben, die noch
nie zur Gänze erfaßten und nur teilweise pu-
blizierten Planrisse der Ulmer Sammlungen
(Münsterbauamt, Stadtarchiv, Museum der Stadt
Ulm) zu sichten und in einer Dokumentation zu
edleren (Die gotischen Planrisse der Ulmer
Sammlungen, W.-Kohlhammer-Verlag, Stuttgart),
wie er dies bereits vor einem Jahrzehnt bei
den Wiener Planrissen praktiziert hatte (Die
gotischen Planrisse der Wiener Sammlungen,
Hermann Bählaus Nachf., Wien, Köln, Graz,
1969). Schon eine erste Übersicht ergab, daß
Ulm nach Wien, aber vor Straßburg den zweit-
größten Bestand an gotischen Baurissen aufzu-
weisen hat, von denen ein großer Teil bisher
völlig unbekannt war.
Der Ulmer Bestand umfaßt Bauaufnahmen
(Grundriß des Straßburger Turmhelmes mit sämt-
lichen Maßangaben), Schaubildrisse (Kopie des
Risses B und Turmriß D), Verdingungsrisse als
Grundlage der Verträge zwischen der Münster-
baupflege und den ausführenden Meistern (Hoch-
altarriß des Jörg Syrlin d. J.), Vorentwürfe mit
zahlreichen Korrekturen und Erläuterungen sowie
Detailpläne. Auffallend bei dem relativ großen
Bestand von rund 50 Rissen ist das völlige Feh-
len von Ausführungsplänen, die beim Bau und
vor allem bei den Abrechnungen Verwendung
fanden und durch Maßangaben, Ziffern und
Steinmetzzeichen gekennzeichnet sind. Es fehlen
in Ulm auch die Lehrstücke, die Programme für
die Ausbildung der Lehrlinge darstellen, durch
Fehler der Schüler und Korrekturen der Meister
auffallen und in den Wiener Beständen relativ
häufig vorkommen. Es ist auf den ersten Blick
klar, daß man bei der späteren Räumaktion
sämtliche (scheinbar) „uninteressanten" Zeichnun-
gen, die vielleicht auch abgegriffen, verschmutzt
und zerrissen waren, vernichtet hat. Dabei scheint
auch der Zufall eine Rolle gespielt zu haben,
denn bei manchen Blättern besitzen wir nur
noch Teilstücke: Die oft über vier Meter hohen
Zeichnungen waren auf mehrere Pergamente ge-
zeichnet und zusammengeklebt. Diese brachen
später aber am Kleberand auseinander und sind
teils erhalten, teils verloren. Da Pergament ein
gesuchtes Material war, besteht der begründete
Verdacht, daß einzelne dieser Teilblätter später
wieder als Bucheinbände Verwendung fanden,
was tatsächlich in einzelnen Fällen (Kreßberg,
Stuttgart) auch nachgewiesen werden konnte.
Daß aber selbst heute noch getrennte Risse zu-
sammengesetzt werden können, beweist der Fall
des Risses Katalog Nr. 16 für das Sakraments-
haus des Ulmer Münsters. Der untere Teil war
im Museum der Stadt ausgestellt, der obere
schlummerte in den Tresoren des Stadtarchivs.
Als man die beiden Blätter probeweise zusam-
mensetzte, erwiesen sie sich als Teilstücke des-
selben Risses. Erst (etzt konnte mit Sicherheit
nachgewiesen werden, daß auch ein Vorent-
wurf für das Ulmer Sakramentshaus (heute in
London, Victoria and Albert Museum), Ulmer
Katalog Nr. 17, fraglos in diesen Zusammen-
hang gehörte, weil die Proportionen der beiden
vollständigen Risse sich jetzt als zusammenpas-
send erwiesen. Die Ausführung in Ulm zeigt
aber gegenüber dem Riß Katalog Nr. 16 noch
einige bemerkenswerte Bereicherungen, die auf
niederländische Einflüsse hinweisen. Die späteren
„Einschübe" sind erst dann deutlich zu erkennen,
wenn man den der Ausführung am nächsten
kommenden Riß 16 genau analysiert.
Schon allein dieses Beispiel beweist, daß man
nur bei einem genauen Vergleich der einzelnen
Risse die Entwicklungsgeschichte nachzuzeichnen
vermag. Dies ist vor allem bei den beiden
Turmrissen A und B der Fall. Von Riß A fehlt
der untere Teil, der anscheinend auf der Bau-
stelle häufig zu Rate gezogen, dabei abgetrennt
wurde und dann verlorenging. Von Riß B kam
gerade der untere Teil im 19. Jahrhundert in den
Kunsthandel und später nach London. Vorn obe-
ren Teil gibt es in Ulm noch ein Teilstück von
Oktogon und Helm. Ob dies aber tatsächlich
ein Bestandteil desselben Risses ist, kann nur
eine Materialuntersuchung mit letzter Sicherheit
klären, wenn das Londoner Original während
des Münsteriubiläums wieder nach Ulm zurück-
kehrt. Daß es aber umgekehrtauch wiederGlücks-
fälle gibt, zeigt die Tatsache, daß ein Sachken-
ner auf dem Ulmer Trödelmarkt zufällig eine
sehr gute Kopie des Risses B aus der Zeit um
1500 erstehen konnte, die es uns erst ermöglicht
hat, ein genaues Bild dieses wichtigen Ulmer
Risses zu entwerfen. Die Ausführung der oberen
Teile des Ulmer Turmes bis zur Vierecksgalerie
erfolgte nach dem Riß C des Matthäus Böblinger,
während der Riß D der Syrlinwerkstatt nur von
theoretischer Bedeutung ist.
Nach dem Studium der Turmrisse A, B und C
scheint die Genesis des Ulmer Riesenturmes klar
ablesbar zu sein, doch beweisen zwei in Ulm
und London erhaltenen Grundrisse, daß es noch
mindestens einen weiteren Turmaufriß gegeben
haben muß, der vor Riß A anzusetzen (Riß A1)
und heute verschollen ist. Dieser zeigt vor dem
Hauptfenster des ersten Obergeschosses sechs
Öffnungen eines Schleierwerkes, während in Ulm
nur drei ausgeführt sind. Da auch in Straßburg
sechs Öffnungen den Hauptfenstern oberhalb
der Seitenschiffportale vorgeblendet sind, wird
die immer schon vermutete Abhängigkeit der
Ulmer Planung von Straßburg noch augenschein-
licher.
Eine unmittelbare Querverbindung zeigt der
großartige Planriß im Historischen Museum zu
Bern, in dem auf dem Unterbau der nördlichen
Hälfte der Straßburger Westfassade das Okto-
gon des Ulrich von Ensingen zu Straßburg und
der Helm des Ulmer Risses A zu sehen sind.
Die Zuschreibung dieses Risses an Ulrich von
Ensingen oder dessen Sohn Matthäus ist um-
stritten. Evident ist aber, wie eng die drei unte-
ren Geschosse der Straßburger Westfassode mit
ihrem Schleierwerk und den iedes Geschoß ab-
schließenden Galerien mit dem Ulmer Turmplan
A verwandt sind. Die Galerie des dritten Ge-
schosses zeigt zudem noch dasselbe Maßwerk,
das wir bei derselben Galerie des Ulmer Risses
A finden.
Der Ulmer Turmgrundriß [Katalog Nr. 12) zeigt
überdies noch eine Darstellung, die in dieser
Ausführung völlig unikal und für die Konstruk-
tion gotischer Strukturen von eminenter Bedeu-
tung ist. Man sieht hier überall Eiseneinlagen
eingezeichnet, auch Knotenpunkte und Gelenke
dieser Eiseneinlagen, (a selbst einige Zeichen-
fehler, die teilweise erkannt und radiert sind.
Die Anordnung dieser verborgenen Stein-Eisen-
Konstruktion gehörte zu den Hüttengeheimnis-
sen, und es ist ungewöhnlich, daß sie in einer
Zeichnung derartig offen analysiert wurde. An-
dererseits wird so klar, weshalb viele der so
wagemutigen gotischen Konstruktionen nicht ein-
gestürzt sind, weil sie durch ein Skelett aus Eisen
gehalten wurden.
Eine ganz ungewöhnliche Oktogonlösung für
den Ulmer Turrn zeigt der Riß (Ulmer Katalog
Nr. 13) im Victoria and Albert Museum.
Einem über Eck gestellten Quadrat wurde
ein frontaler Wendeltreppenturm vorgeschaltet.)
An jeder der vier Ecken sehen wir offene Drei-
ecke mit Fenstern, so daß aus dem Oktogon