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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXII (1977 / Heft 154 und 155)

Hans Koepf 
Neue Ergebnisse der 
Planrißforschung durch die 
Publikation der Risse der 
Ulmer Bauhütte 
1 Ulm, Münster, Westturm, Riß A (Unterbau 
fehlt). Museum der Stadt Ulm - Fragment (un- 
terhalb) von der Vorhalle des Westturms des 
Ulmer Münsters. London, Victoria and Albert 
Museum 
2 Straßburg, Münster, Westfassade. Nordhälfte 
mit Turmaufbau des Ulrich von Ensingen. Bern, 
Stodtmuseum 
18 
Im Jahre 1977 feierte Ulm die 600-Jahr-Feier der 
Grundsteinlegung seines Münsters, der größten 
Bürgerkirche Europas mit dem höchsten Kirchturm 
der Welt. Aus diesem Grunde hat die Stadt Ulm 
dem Verfasser den Auftrag gegeben, die noch 
nie zur Gänze erfaßten und nur teilweise pu- 
blizierten Planrisse der Ulmer Sammlungen 
(Münsterbauamt, Stadtarchiv, Museum der Stadt 
Ulm) zu sichten und in einer Dokumentation zu 
edleren (Die gotischen Planrisse der Ulmer 
Sammlungen, W.-Kohlhammer-Verlag, Stuttgart), 
wie er dies bereits vor einem Jahrzehnt bei 
den Wiener Planrissen praktiziert hatte (Die 
gotischen Planrisse der Wiener Sammlungen, 
Hermann Bählaus Nachf., Wien, Köln, Graz, 
1969). Schon eine erste Übersicht ergab, daß 
Ulm nach Wien, aber vor Straßburg den zweit- 
größten Bestand an gotischen Baurissen aufzu- 
weisen hat, von denen ein großer Teil bisher 
völlig unbekannt war. 
Der Ulmer Bestand umfaßt Bauaufnahmen 
(Grundriß des Straßburger Turmhelmes mit sämt- 
lichen Maßangaben), Schaubildrisse (Kopie des 
Risses B und Turmriß D), Verdingungsrisse als 
Grundlage der Verträge zwischen der Münster- 
baupflege und den ausführenden Meistern (Hoch- 
altarriß des Jörg Syrlin d. J.), Vorentwürfe mit 
zahlreichen Korrekturen und Erläuterungen sowie 
Detailpläne. Auffallend bei dem relativ großen 
Bestand von rund 50 Rissen ist das völlige Feh- 
len von Ausführungsplänen, die beim Bau und 
vor allem bei den Abrechnungen Verwendung 
fanden und durch Maßangaben, Ziffern und 
Steinmetzzeichen gekennzeichnet sind. Es fehlen 
in Ulm auch die Lehrstücke, die Programme für 
die Ausbildung der Lehrlinge darstellen, durch 
Fehler der Schüler und Korrekturen der Meister 
auffallen und in den Wiener Beständen relativ 
häufig vorkommen. Es ist auf den ersten Blick 
klar, daß man bei der späteren Räumaktion 
sämtliche (scheinbar) „uninteressanten" Zeichnun- 
gen, die vielleicht auch abgegriffen, verschmutzt 
und zerrissen waren, vernichtet hat. Dabei scheint 
auch der Zufall eine Rolle gespielt zu haben, 
denn bei manchen Blättern besitzen wir nur 
noch Teilstücke: Die oft über vier Meter hohen 
Zeichnungen waren auf mehrere Pergamente ge- 
zeichnet und zusammengeklebt. Diese brachen 
später aber am Kleberand auseinander und sind 
teils erhalten, teils verloren. Da Pergament ein 
gesuchtes Material war, besteht der begründete 
Verdacht, daß einzelne dieser Teilblätter später 
wieder als Bucheinbände Verwendung fanden, 
was tatsächlich in einzelnen Fällen (Kreßberg, 
Stuttgart) auch nachgewiesen werden konnte. 
Daß aber selbst heute noch getrennte Risse zu- 
sammengesetzt werden können, beweist der Fall 
des Risses Katalog Nr. 16 für das Sakraments- 
haus des Ulmer Münsters. Der untere Teil war 
im Museum der Stadt ausgestellt, der obere 
schlummerte in den Tresoren des Stadtarchivs. 
Als man die beiden Blätter probeweise zusam- 
mensetzte, erwiesen sie sich als Teilstücke des- 
selben Risses. Erst (etzt konnte mit Sicherheit 
nachgewiesen werden, daß auch ein Vorent- 
wurf für das Ulmer Sakramentshaus (heute in 
London, Victoria and Albert Museum), Ulmer 
Katalog Nr. 17, fraglos in diesen Zusammen- 
hang gehörte, weil die Proportionen der beiden 
vollständigen Risse sich jetzt als zusammenpas- 
send erwiesen. Die Ausführung in Ulm zeigt 
aber gegenüber dem Riß Katalog Nr. 16 noch 
einige bemerkenswerte Bereicherungen, die auf 
niederländische Einflüsse hinweisen. Die späteren 
„Einschübe" sind erst dann deutlich zu erkennen, 
wenn man den der Ausführung am nächsten 
kommenden Riß 16 genau analysiert. 
Schon allein dieses Beispiel beweist, daß man 
nur bei einem genauen Vergleich der einzelnen 
Risse die Entwicklungsgeschichte nachzuzeichnen 
vermag. Dies ist vor allem bei den beiden 
Turmrissen A und B der Fall. Von Riß A fehlt 
der untere Teil, der anscheinend auf der Bau- 
stelle häufig zu Rate gezogen, dabei abgetrennt 
wurde und dann verlorenging. Von Riß B kam 
gerade der untere Teil im 19. Jahrhundert in den 
Kunsthandel und später nach London. Vorn obe- 
ren Teil gibt es in Ulm noch ein Teilstück von 
Oktogon und Helm. Ob dies aber tatsächlich 
ein Bestandteil desselben Risses ist, kann nur 
eine Materialuntersuchung mit letzter Sicherheit 
klären, wenn das Londoner Original während 
des Münsteriubiläums wieder nach Ulm zurück- 
kehrt. Daß es aber umgekehrtauch wiederGlücks- 
fälle gibt, zeigt die Tatsache, daß ein Sachken- 
ner auf dem Ulmer Trödelmarkt zufällig eine 
sehr gute Kopie des Risses B aus der Zeit um 
1500 erstehen konnte, die es uns erst ermöglicht 
hat, ein genaues Bild dieses wichtigen Ulmer 
Risses zu entwerfen. Die Ausführung der oberen 
Teile des Ulmer Turmes bis zur Vierecksgalerie 
erfolgte nach dem Riß C des Matthäus Böblinger, 
während der Riß D der Syrlinwerkstatt nur von 
theoretischer Bedeutung ist. 
Nach dem Studium der Turmrisse A, B und C 
scheint die Genesis des Ulmer Riesenturmes klar 
ablesbar zu sein, doch beweisen zwei in Ulm 
und London erhaltenen Grundrisse, daß es noch 
mindestens einen weiteren Turmaufriß gegeben 
haben muß, der vor Riß A anzusetzen (Riß A1) 
und heute verschollen ist. Dieser zeigt vor dem 
Hauptfenster des ersten Obergeschosses sechs 
Öffnungen eines Schleierwerkes, während in Ulm 
nur drei ausgeführt sind. Da auch in Straßburg 
sechs Öffnungen den Hauptfenstern oberhalb 
der Seitenschiffportale vorgeblendet sind, wird 
die immer schon vermutete Abhängigkeit der 
Ulmer Planung von Straßburg noch augenschein- 
licher. 
Eine unmittelbare Querverbindung zeigt der 
großartige Planriß im Historischen Museum zu 
Bern, in dem auf dem Unterbau der nördlichen 
Hälfte der Straßburger Westfassade das Okto- 
gon des Ulrich von Ensingen zu Straßburg und 
der Helm des Ulmer Risses A zu sehen sind. 
Die Zuschreibung dieses Risses an Ulrich von 
Ensingen oder dessen Sohn Matthäus ist um- 
stritten. Evident ist aber, wie eng die drei unte- 
ren Geschosse der Straßburger Westfassode mit 
ihrem Schleierwerk und den iedes Geschoß ab- 
schließenden Galerien mit dem Ulmer Turmplan 
A verwandt sind. Die Galerie des dritten Ge- 
schosses zeigt zudem noch dasselbe Maßwerk, 
das wir bei derselben Galerie des Ulmer Risses 
A finden. 
Der Ulmer Turmgrundriß [Katalog Nr. 12) zeigt 
überdies noch eine Darstellung, die in dieser 
Ausführung völlig unikal und für die Konstruk- 
tion gotischer Strukturen von eminenter Bedeu- 
tung ist. Man sieht hier überall Eiseneinlagen 
eingezeichnet, auch Knotenpunkte und Gelenke 
dieser Eiseneinlagen, (a selbst einige Zeichen- 
fehler, die teilweise erkannt und radiert sind. 
Die Anordnung dieser verborgenen Stein-Eisen- 
Konstruktion gehörte zu den Hüttengeheimnis- 
sen, und es ist ungewöhnlich, daß sie in einer 
Zeichnung derartig offen analysiert wurde. An- 
dererseits wird so klar, weshalb viele der so 
wagemutigen gotischen Konstruktionen nicht ein- 
gestürzt sind, weil sie durch ein Skelett aus Eisen 
gehalten wurden. 
Eine ganz ungewöhnliche Oktogonlösung für 
den Ulmer Turrn zeigt der Riß (Ulmer Katalog 
Nr. 13) im Victoria and Albert Museum. 
Einem über Eck gestellten Quadrat wurde 
ein frontaler Wendeltreppenturm vorgeschaltet.) 
An jeder der vier Ecken sehen wir offene Drei- 
ecke mit Fenstern, so daß aus dem Oktogon
	        
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