1922 in Paul Werstheims „Kunstblatt" (im Zuge
der Rundfrage „Ein neuer Naturalismus?") wurde
die Richtung erstmals umschrieben. 1923 begann
C. F. Hartlaub, Direktor der Städtischen Kunst-
halle Mannheim, Bilder solcher Art zusammenzu-
tragen. 1925 (dies war auch das Jahr der ersten
großen Pariser Surrealistenschau) stellte Hart-
laub in der Kunsthalle das von ihm selber ge-
sammelte Material vor - als Zeugnisse einer
„Neuen Sachlichkeit". Mit dem gleichen Namen
hatte bereits um 1900 der deutsche Architekt
und Organisator Hermann Muthesius die Bau-
kunst und das Kunstgewerbe des damals eben
anbrechenden 20. Jahrhunderts belegt.
Die Maler der „Neuen Sachlichkeit" empfanden
Abneigung gegen das Pathos des ia noch eine
Weile fortbestehenden Expressionismus sowie
gegen dessen und gewisser abstrakter Strömun-
gen „lnnerlichkeit". Mindestens ebenso entschie-
den lehnten sie die impressionistische Formauf-
lösung und iene Zerlegung der Form ab, welche
Sache des Kubismus war. Der neuen Richtung
lag vor allem an der Wiederherstellung der Ge-
genständlichkeit, an einer unmittelbar greifbaren
Wirklichkeit in der bildenden Kunst.
Exaktheit, Zurückhaltung, Kühle, viel von der
Sphäre der industriell erzeugten Form (darin
durchaustAusprägungen des Konstruktivismus ver-
wandt) wurden kennzeichnend für die in einem
engeren Sinne „neusachliche" Malerei. Das
„,Technisch-lndustrielle" wirkt noch in der gleich-
sam metallenen Gestaltung von Arm und Leib
und in dem Blechgeknatter nach, welches Falten-
wurf, Haar- und Schleifenschwung eines so sehr
an die Grenze zum Modischen geratenen Por-
träts wie das des „Jungen Mädchens in Grün"
von Tamara de Lempicka (Abb. 11) hörbar zu
machen scheinen.
Kühle und Distanz regieren auch szenisch-psycho-
logische Darstellungen u. a. bei Anton Räder-
scheidt.„Mondhelle" und„unerbittliche Nacktheit
des Weibes" gegen die „lsoliertheit, Eingekap-
seltheit" des Mannes stehe, diagnostiziert Franz
Roh (in „Kunstblatt", Jahrgang 1930, Seite 103).
Als eine solche eher statische Darstellung des
Geschlechterkampfes, Geschlechtergegensatzes
läßt sich wohl auch Räderscheidts „Tennisspiele-
rin" von 1926 auffassen (Abb. 12), ein Bild,
welches zu allem übrigen ein Porträt des Künst-
lers und seiner (als Turnlehrerin ausgebildeten)
Frau darstellt.
1a
12
13
14
15
16
17
18
19
Anton Räderscheidt, Tennisspielerin, 1926; U1
auf Leinwand: 100x80 cm
Pablo Picasso, Zwei sitzende Frauen (Deux fem-
mes nues assises), 1920; Ul auf Leinwand:
195 x163 cm
George Grosz, Grauer Tag, 1921; U1 auf Lein-
wand: 115 x 80 cm
Rene Ma ritte, Der bedrohte Mörder (L'assasin
menace), 926-, U1 auf Leinwand: 150 x 1955 cm
Max Ernst, Die heilige Cäcilie (Sainte (iecile),
1923; Ül auf Leinwan : 101 x82 cm
Max Ernst, Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind
vor drei Zeugen: Andre Breton, Paul Eluard
und dem Maler (La Vierge corrigeant l'enfant
Jesus devant trois temains: A. B. P. E. et le
peintre), 1926; U1 auf Leinwand: 19d x 130 cm
George Grosz, Republikanische Automaten,
1920; Aquarell, Feder-Tusche auf Karton:
60x47,3 cm. In AussL-Kat. d. Ersten internatio-
nalen Dada-Messe, Berlin, 1920, Nr. 71, als:
„Tatlinistische mech. Konstruktion. Den saziali-
stischen Reichsabgeordneten, die für den Krieg
gestimmt haben, gewidmet"
Max Beckmann, Selbstbildnis im Smoking, 1927;
U1 auf Leinwand: 141 x16 cm
Körperlichkeit auf eine ganz andere Weise, näm-
lich als etwas an sich Großartiges, Monumenta-
les erscheint in Pablo Picassos „Zwei sitzende
Frauen" (Abb. 13.).
Die „Neue Sachlichkeit" ist eine städtische Kunst.
Die Stadt und ihre Bewohner sind ihre bevor-
zugten Themen. Der „veristische" Zweig der
„Neuen Sachlichkeit" hat insbesondere auch, wie
ia schon Dada, die von grellen Rhythmen durch-
zuckte Großstadt der Nachkriegszeit mit ihrem
sozialen Elend, ihren Kriegskrüppeln, Barrika-
den, Nachtlokalen, Huren, Schiebern, zweifel-
haften Existenzen der verschiedensten Art dar-
gestellt. ln „Grauer Tag" (1921) von George
Grosz (Abb. 14), einem Gemälde, das ursprüng-
lich den Titel „Magistratsbeamter für Kriegsbe-
schädigtenfürsorge" trug, kommen nicht nur der
Beamte, der auf der Seite der herrschenden
Klasse steht (ienseits der nach der Revolution
aufs neue emporwachsenden Mauer, durch wel-
che die Klassenschranke versinnbildlicht wird)
und der lnvalide vor, sondern auch der ge-
sichtslose, zum Massenmenschen degradierte Ar-
beiter, neben einem dritten, schwer zu definie-
renden Menschenwesen, das sich an der Mauer
herumdrückt.
Der mit der Neuen Sachlichkeit gleichzeitig
sich entwickelnde Surrealismus hat wesentliche
Vorstufen ebenfalls im Dadaismus. Er war ge-
raume Zeitfebellisch wie dieser. Und insbeson-
dere die dadaistische Vorliebe für das Irrationa-
le, Überraschende, Schockierende hat ihn be-
feuert. Auch die Wertschätzung des Zufalls, die
Dada-Erbe ist, wurde charakteristisch. Die Pro-
paganda zweier psychoanalytischer Verfahrens-
weisen, des Traumberichts und der freien As-
soziatian (aus welch letzterer dann der surreali-
stische „Automatismus" wurde), brachte Andre
Breton in die Erbschaft.
Im Gegensatz zur Psychoanalyse aber, die (Sig-
mund Freud: „Wo ES war, soll ICH werden"!)
das Unbewußte unter die Kontrolle der Vernunft
bringen möchte, lehrte Breton geradezu die Ver-
herrlichung alles irrationalen, Unbewußten,
Triebhaften.
Am Anfang war man, gleich den dadaistischen
Anti-Künstlern, überhaupt gegen Kunst. Das ließ
bald nach, verhinderte nicht, daß wundervolle
Bilder entstanden. Eines der qualitätsvollsten,
suggestivsten und zugleich unheimlichsten ist
Rene Magrittes „Der bedrohte Mörder" (Abb.
15.).
15
l
l
l