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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXIII (1978 / Heft 156)

unmögliche Bauteile. wie die dreibogige italieni- 
sche Arkade der Südseite. die Ringmauer völlig 
überragend, erwähnt Walcher nicht. Natürlich ist 
ein Werk noch nicht eigenständig schöpferisch, 
nur weil es keine -streng historische-i Kopie dar- 
stellt. Nachzuweisen sind daher Kriterien der for- 
malen Eigenständigkeit der Veste Kreuzenstein als 
eines Werkes des Kontinuismus. 
Kreuzenstein wurde schon als Werk von dessen 
Spätphase bezeichnet. Demgemäß zeigt sich in 
Kreuzenstein eine weitgehende Verselbständi- 
gung der einzelnen Bauteile. zu der deren Höhen- 
differenzierung gehört; auch die Geschoßhöhen 
sind verschieden, durchgehende Gesimse oder 
wenigstens gleich hohe selten. Es entsteht der 
Eindruck eines vertikalen Verschiebens von Flä- 
chen - den Frontwänden -, manchmal sprunghaft, 
schießend. Dieses Verschieben macht die Bezüge 
der Teile unter sich und zum Ganzen mehrdeutig. 
Das ist aber nicht die tastende Unklarheit des 
Frühkontinuismus, sondern eine für dessen Spät- 
phase typische Neigung zu indirekter Tektonik, zu 
Ermöglichung verschiedenartiger Bezüge. die in 
derlmagination des Betrachters vollzogen werden. 
Dieses Phänomen ist äußerst bedeutsam für den 
Spätkontinuismusderes auch auf anderen Wegen 
als dem Gegeneinandersetzen von Bauteilen und 
Vermeidung durchgehender Horizontalen er- 
reicht. 
Meist ist in Kreuzenstein großflächige glatte Wand 
das Primäre. Auch wenn Alfred Walcher sein Be- 
stes tut. um das Künstlerische an Kreuzenstein zu 
verleugnen und den Bau zu einer wrealhistorischi- 
determinierten nachmachenden Rekonstruktion 
zu entleeren: Die glatten Mauern entstanden nicht 
wegen der Steinschleudern. sondern weil Flächig- 
keit der Richtung des Kunstwollens im Spätkonti- 
nuismus entsprach. Da Walchers hier zitiertes 
Buch im Nachkontinuismus entstand, will er die 
Burg als museales. didaktisch relevantes Objekt 
"retten-i. Bezeichnenderweise zeigt sich bei dem 
nach der Gruft ältesten Teil. der Kapelle mit ihrem 
Glockenturm. die Glattflächigkeit am wenigsten. 
Hier sind es Durchbrochenheit und plastische 
Gliederung. vor allem in der Westansicht, die der 
Beschauer erlebt, wenn er vor der Veste steht. 
Bei dieser Westansicht zeigt sich auch eine dichte 
Akkumulation von gruppierten Verlikalgebilden. 
eine in diesem Grade im romantischen Schloßbau 
nicht häufige Aufstellung. Akkumulation von Verti- 
kaltellen, wenn auch nicht so aufgeteilt, zeigt sich 
aber im romantischen Schloßbau während dessen 
gesamter Dauer. schon bei dem ersten bekannten 
Beispiel. Vanbrugh Castle, Blackheath bei London 
(1717-1718)". Als österreichische Vergleichsbei- 
spiele seien Schloß Miramar bei Triest (ab 1858) 
und Schloß Fischhorn bei Zell am See (1863-1866) 
erwähnt". 
Außerordentlich groß ist außen und innen die Be- 
deutung und Häufigkeit der Einfügungen von zu- 
weilen sehr großen Bauteilen des Vorkontinuis- 
mus, konkret des Mittelalters und des 16. Jahrhun- 
derts. Was diese Einzelteile angeht - nicht jedoch 
die Burg als Ganzes -. liegt hier vielleicht wirklich 
Historismus im Kontinuismus vor, ein enger Ver- 
gangenheitsbezug. stark gegenüber dem Eigen- 
ständigen. Dies tritt dort auf, wo die Synthesekraft 
der romantisch bestimmten Epoche des Kontinu- 
ismus nicht mehr so stark ist wie in der reifen Phase 
oder wo sie noch nicht die volle Intensität erreicht 
hat. Wieder berühren sich Anfang und Ende des 
Kontinuismus: die schon mehrfach erwähnte Fran- 
zensburg besitzt auch zahlreiche ältere Einfügun- 
gen. Durch die Ordnungsmacht Architektur - und 
zwar eigenständige Architektur des Kontinuismus 
- sind diese älteren Teile aber völlig künstlerisch- 
schöpferisch integriert. Überdies kann allfälliger 
Historismus nur höchst bedingt Anlaß für ihre Ver- 
wendung gewesen sein, da die Epoche bei älterer 
28 
Kunst ja eine überzeitlich gültige Komponente er- 
kannte. 
An der Südfront der Veste folgen, proportional 
ähnlich. drei relativ kompakte Bauteile unmittelbar 
aufeinander. Sowohl ihre Kompaktheit als ihre 
nicht serielle. aber ans Serielle streifende Reihung 
sind in der konkreten formalen Ausprägung fast 
schon secessionistisch. Auch ist das Auf und Ab 
von Diagonalen der westlichen Ringmauer und 
verschiedener Teile der lnnenhöfe eine noch ge- 
rade kontinuistische Vorstufe zu dem Undulieren 
mehrfacher. unmittelbar aufeinander folgender 
Wellenbewegungen des r-Jugendstilse. Die Diago- 
nalen in Kreuzenstein sind aber nichtwie die Undu- 
lationen des Jugendstils als Formprinzip verabsc- 
lutiert, sondern vermitteln zwischen den Schen- 
keln rechter Winkel. Auch sind sie nicht wie die 
Wellenlinien der Secession eine Fingierung des 
Unbewußten. die auf Grund verstandesmäßiger 
Reflexion produziert ist und als artifizielle Wuche- 
rung wirkt. 
Die Einfügung kleiner Steinreliefs in die glatte 
Mauerfläche über der Doppelarkarde der Haupt- 
treppenvorhalle im zweiten Hof. rechts der Apsis 
der Kapelle, ist ebenfalls ein Zug der allerspätesten 
Phase des Kontinuismus. Denn die kleinen Gebilde 
schwimmen-i ohne Relation zu einer Gliederung 
(abgesehen von wenigen symmetrischen Rich- 
tungsbezügen) und ohne Schwerpunktbildung, 
auch nicht zu Gruppierungen erweitert, ziemlich 
isoliert. fast museal in nur schwach rhythmisierter 
Anordnung in der Wandfläche. monoton verteilt. 
 
11 Burg Kreuzenstein. 2. Burghof 
Anmerkungen 34-39 
" sir Nikolaus Pevsrlar. Eurßpalsche Architektur. Munchert 1957. 
S S10 vgl Klaus EggerLzil Anm 5. S 75. 
u Zll Anm. 5, S. 75, 77. 
" lhidem, s. 74 
1' Klaus Eggert lfl Die Wiener Ringstrasse Das Kunstwerk lfTl eild. 
i; Die wierier Ringstrasse, aild einer Epoche. Trager Flltl Thyssen 
stittiirig. an. n. wieri 1969. passlm 
3' Zit Arlm 17. S. 179. 
" Zll, Anm 11.5 57, zit Anm, l. S. X, 480 
Beim Inneren von Kreuzenstein war das oberste 
Prinzip, Raumform als Inneres eines Kubus zu ver- 
meiden und den Raum in sich selbst in möglichst 
vmalerischer-i Vielfalt abwechslungsreich zu un- 
terteilen. Auffallend ist die Neigung zu schrägen 
Geraden. konkret Treppen. die in die Räume ein- 
gebaut werden: Der große Saal. die Bücherstube 
und die Halle an der Südseite haben solche Trep- 
peneinbauten. auf welche der Blick jeweils durch 
eine offene. begehbare "Schneise" zwischen Sei- 
tenkulissen aus Gliederung oder mobilen Objekten 
- die so wenig wie möglich rrmobili- aufgefaßt sind 
- hingeleitet wird. Dieses Durchblicksprinzip ist 
eines der wichtigsten Gestaltungsprinzipien kon- 
tinuistischer lnterieurs allgemein. Es dürfte sich 
vom englischen Landschaftsgarten herleiten, mit 
dem zusammen als früheste kontinuistische Bau- 
gattung das romantische Landschloß Anfang des 
18. Jahrhunderts in Großbritannien entstand. So 
hat der Park von Schloß Grafenegg bei Krems, so- 
weiter noch nicht verändert ist, eine ganze Reihe 
solcher schneisenartiger Durchblicke zum Schloß. 
das frühestens 1843 in der Ausführung begonnen 
wurde, während der dortige englische Park schon 
älter ist". 
Die gesammelten Objekte an den Wänden sind in 
Kreuzenstein gruppiert angeordnet. wobei die 
Gruppen Schwerpunkte in sich haben, die häufig 
nach oben gerückt sind. Diese Kopfgewichtigkeit, 
wie sie der Verfasser nennt, ist eines der typischen 
Kriterien kontinuistischer Kunst". Die Gruppie- 
rungen an der Wand haben Bezug zu deren Gliede- 
rung und zu den vor der Wand stehenden Möbeln. 
Es ist eine vielfältige, in unerschöpflicher Phanta- 
sie erschaffene Ordnung; auf die Fiktion angebli- 
cher nÜberladung-i einzugehen, lohnt sich nicht. 
Über eine Gesamtharmonie im Sinne des Gesamt- 
kunstwerkes - von Jacob v. Falke. diesem hochbe- 
deutenden Kunst- und speziell Wohnungs-Theore- 
tiker des Kontinuismus. r-Decorationi- genannt - 
jenseits geschichtlicher Bedingtheit, wie etwa 
strenger Befolgung der Merkmale eines bestimm- 
ten Stiles, äußerte sich Falkewiefolgt: ß-Dassdurch 
solche Vereinigung ererbten oder angesammelten 
Hausraths keineswegs der Eindruck künstlerischer 
Unruhe. des Unpassenden und Störenden entste- 
hen muss, das sehen wir häufig an den Wohnungen 
unserer Kunstfreunde und Sammler, wenn anders 
dieselben mit bewusster Absicht und wirklichem 
Geschmack gewählt haben und sie in der Anord- 
nung decorative Rücksichten haben lassen walten. 
. . . Hat, . . ein künstlerischer Sinn geherrscht, 
bindet ein ruhiger Hintergrund das Zerstreute zu- 
sammen. so fühlen wir uns überraschtvon der ma- 
lerischen Haltung und der harmonischen Wirkung, 
und niemanden fällt es ein daran Anstcss zu neh- 
men, dass hier Jahrhunderte und Welttheile auf 
Zollänge aneinander gerückt sindßi" Obwohl 
Falke Vorstehendes im reifen Kontinuismus 
schrieb, haben diese und die meisten seiner son- 
stigen Äußerungen auch für den späten Gültigkeit, 
und auch die Räume auf Kreuzenstein sind hiermit 
wesentlich charakterisiert. 
Als Graf Wilczek sein Ende herannahen fühlte, ließ 
er am 25. Januar 1922 eines seiner Lieblingsstük- 
ke, den Topfhelm des 14. Jahrhunderts aus Krain. 
aus Kreuzenstein holen und nahe dem Lager auf- 
stellen. Am 27. Januar verstarb er und ward auf 
Kreuzenstein beigesetzt. Damit war der Schöpfer 
des letzten großen romantischen Milieuschlosses 
in Österreich gegangen. Sophie Fürstin Öttin- 
gen-Öttingen, geborene Prinzessin Metternich. 
schrieb der Familie, nun sei das Kostbarste auf 
Kreuzenstein hinaufgekommen. er selbst, der 
Schlußslein". 
L] Anschrift des Autors 
Dr. Klaus Eggert 
Dürergasse 6 
1060 Wien
	        
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