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Inhaltsverzeichnis: Alte und Moderne Kunst XX (1975 / Heft 139)

Wenn auch das Exponat - vor allem seiner 
künstlerischen oder handwerklichen Qualität und 
seines hohen materiellen Wertes wegen - isoliert 
im Vordergrund der Betrachtung zu stehen 
scheint, so sind die politisch-historischen, wirt- 
schaftlichen, kultischen und kulturgeschichtlichen 
Folgerungen, die sich wohl auch aus dem Einzel- 
obiekt, in erster Linie aber aus einer Zusammen- 
schau ergeben, alles eher als sekundär'. Denn 
eine thrakische Literatur, die diesbezüglich her- 
angezogen werden könnte, gibt es nicht. Inschrif- 
ten beschränken sich fast ausschließlich auf Per- 
sonen- und Ortsnamen; eine Ausnahme bildet 
der Goldring aus Ezerovo? (Abb. 2) vom Ende 
des 5. Jahrhunderts v. Chr. Die Schrift ist grie- 
chisch, der Inhalt ungedeutet. Das einzige, was 
aus den epigraphischen Denkmälern Thrakiens 
mit einiger Sicherheit erschlossen werden kann, 
ist die Zugehörigkeit zur indogermanischen 
Sprachfamilie. So sind wir hinsichtlich histori- 
scher und kulturgeschichtlicher Schriftzeugnisse 
in erster Linie auf griechische Literatur ange- 
wiesen. Die frühesten Nachrichten finden sich 
in den Hamerischen Epen. Weiters berichten 
Diodor und Konon, Thukydides und Herodot 
über Thrakien; vor allem die Schilderungen des 
letztgenannten sind iedoch mit Vorsicht zu ver- 
werten; erscheinen doch Sitten und Gebräuche, 
Religion und Mythos der Thraker den Griechen 
so fremd und barbarisch, daß eine tendenziöse 
Färbung der Aussagen des Autors wahrschein- 
lich ist. Abgesehen davon gibt es bei Herodot 
Widersprüchliches, so daß die literarischen Zeug- 
nisse nicht sehr ergiebig sind. Für eine Geschichte 
Thrakiens sind deshalb die archäologischen Quel- 
len unentbehrlich. 
Primär stellt sich die Frage: waren die Thraker 
autachthon, d. h. waren schon sie die Träger 
der neolithischen Kultur oder drangen sie erst 
in späterer Zeit in Thrakien ein? Die Resultate 
der Bodenforschung geben der zweiten Hypo- 
these absoluten Vorzug: Vom Ende des 6. bis 
zum Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. ent- 
wickelte sich eine Kultur, die von derjenigen der 
Thraker grundlegend verschieden ist. Im Lauf des 
2. Jahrtausends wanderte ein Großteil der ur- 
sprünglich ansässigen Bevölkerung nach Klein- 
asien aus. Ein neues Volk strömte in das Gebiet 
ein und wurde im Laufe der Zeit seßhoft: die 
Thraker. 
Nach der dorischen Wanderung am Ende der 
Bronzezeit begann eine lange Periode des Frie- 
dens. Die Thraker bewohnten das Territorium 
des heutigen Bulgarien und die südlich anschlie- 
ßenden Landstriche bis zur ägäischen Küste, um- 
fangreiche Gebiete Rumäniens sowie Teile Make- 
doniens und Thessaliens. An der Spitze der 
zahlreichen Stämme standen von der Aristokra- 
tie gestützte Priesterkänige, deren befestigte Pa- 
läste zugleich Kultstätten waren. Die in Dörfern 
lebende Bevölkerung betrieb Viehzucht und Feld- 
bau. Im 7. Jahrhundert besiedelten griechische 
Kolonisten die thrakische Küste. Gegen Ende des 
6. Jahrhunderts überfluteten die Skythen nach 
einer persischen Niederlage Ostthrakien. Süd- 
thrakien wurde im Zuge der kriegerischen Aus- 
einandersetzung mit Griechenland für dreißig 
Jahre persisches Besatzungsgebiet. Nadw dem 
Abzug der Perser unterworfen Teres und Sitalkes 
zahlreiche thrakische Stämme und begründeten 
damit das Odrysenreich. Diese einzige Bildung 
eines throkischen Großreiches hatte eine unge- 
ahnte, aber kurze Zeit der Blüte zur Folge. Im 
4. Jahrhundert ermöglichte innere Zerrissenheit 
den Einmarsch der Makedonen, unter deren 
Herrschaft es zu blutigen Zwistigkeiten und da- 
mit zu einer Schwächung der Thraker wie der 
Makedonen kam. Nach einer kurzen Besetzung 
durch die Kelten brachte Rom das Gebiet in 
seine Gewalt. Im Nordwesten entstand die Pro- 
2 
vinz Mösien, während der Südosten vorerst rö- 
misches Protektorat, um die Mitte des 1. Jahr- 
hunderts n. Chr. zur Provinz Thrakien wurde. 
Dieser skizzenhofte historische Abriß macht vor 
allem eines deutlich: Thrakien war ununterbro- 
chen in intensivem Kontakt zu seiner Umgebung, 
sei es in Kriegen mit anschließender Besetzung 
des Landes - durch Skythen, Perser, Makedonen, 
Kelten und Römer -, sei es in friedlicher Berüh- 
rung mit griechischen Kolonisten und lllyrern, 
den Nachbarn im Westen. Die Folge waren star- 
ke kulturelle Beeinflussungen und Überschichtun- 
gen; sie sind aus der künstlerischen Produktion, 
der nahezu einzigen throkischen Hinterlassen- 
schaft, ersichtlich. 
Eine Betrachtung der Denkmäler wird in erster 
Linie den Werken thrakischer Künstler gelten, 
vorthrakische Erzeugnisse sollen nur kurz ge- 
streift werden. 
Den frühen Versuch einer Gestaltung des Men- 
schen zeigt ein doppelköpfiges Gefäßf (Abb. 5). 
Wenn auch ein Proportionsgefühl völlig fehlt, so 
ist die menschliche Figur in ihrer Gesamtheit und 
ihren Einzelteilen plastisch im wesentlichen er- 
foßt: der Kopf mit Angabe von Augen, Nase, 
Mund und Ohren ist klar vorn Körper abgesetzt. 
Dünne Arme sind abgewinkelt vor den Bauch 
gelegt; die weibliche Brust ist plastisch angedeu- 
tet; die Hüften sind maßlos überbetant, die 
Beine plump. Das Gefäß diente wohl kultischen 
Zwecken. 
Aus der Nekropole von Varna wird der Inhalt 
zweier Gräber gezeigtt. Der Reichtum der Bei- 
gaben spricht für fürstliche Bestattungen. Fast 
unerklärlich erscheint, daß gleichzeitig mit den 
recht primitiv hergestellten Feuersteinmessern be- 
reits Marmor einfach bearbeitet, Kupfer, insbe- 
sondere Gold iedoch in technisch fortgeschritte- 
nerWeise geformt werden konnten. Äxtelepter- 
spitzen, schwere Armreifen und Ringe kamen 
zutage; daneben auch figürlich Gestaltetes; 
aus Goldblech geschnittene Stieres. Wesentlich 
stärker ist die Tendenz zum Abstrakten bei einer 
Anzahl gleichartiger Goldplättchenf (Abb. 6); 
die Tierform ist zum Ornament geworden. So- 
wohl diese Stier- oder Widderhörner als auch 
die zuvor erwähnten Stiere waren vermutlich als 
Besatzstücke auf Totenkleider genäht. 
Der Goldschatz von VoIEitran 7 (Abb. 7) - einer 
der Höhepunkte der Ausstellung - ist thrakischer 
Herkunft, gleichgültig, ob man ihn früh oder spät 
datiert; denn diesbezüglich klaffen die Meinun- 
gen weit auseinander: von der Mitte des 2. Jahr- 
tausends bis zum 5. Jahrhundert v. Chr. Meines 
Erachtens ist eine Entstehungszeit in den frühen 
Jahrhunderten des 1. Jahrtausends am wahr- 
scheinlichsten, weil die griechisch-geometrische 
Keramik sehr verwandte Vasenformen aufweist '. 
Der Fund enthält ein großes, zweihenkeliges und 
ein dreiteiliges Gefäß, vier Trink- oder Schöpf- 
becher und sieben Deckel. Das dreiteilige Gefäß 
diente vermutlich der rituellen Vermischung ver- 
schiedener Flüssigkeiten. Die Oberfläche der 
zwei großen Deckel und ihrer Griffe ist mit 
einem geometrischen Ornament in Silber ver- 
ziert; die Griffe selbst sind durch gegossene 
Bronzeunterlagen verstärkt. - Auffallend ist an 
diesen Stücken - wenn man dasdreiteiligeMisch- 
gefäß ausklammert - die Unkompliziertheit der 
Form: maßvoll geschwungene Becher mit steil 
angesetzten Henkeln; fast plane Flächen der 
Deckel, die über einfache Profile zu den zwiebel- 
förmigen Griffen führen. Auffallend sind aber 
auch die Einfachheit und der sparsame Ge- 
brauch der Ornamentik, die auch hier rein 
geometrisch ist (Abb. 7). - Zweifellos war der 
Schatz von Valcitran fürstlicher Besitz; ebenso 
sicher ist aber auch die kultische Verwendung 
seiner Teile; er könnte also Eigentum eines 
throkischen Priesterkönigs gewesen sein, in des- 
Anmerkungen 1-24 
' Historisches, Kunst- und Kulturgeschidttliches eil 
der behandelt bei l. Venedikov - T. Gerassimov, 
satte Kunst (Wien-München 1973). 
iGoldsctiätze der Thraker - Thrakische Kultur unc 
auf bulgarischem Boden, Katalog der bulg. Auss 
Wien1975 (künftig abgekürzt: Katalog), 59f., Nr.1t 
3 Um 3000. Katalog 105, Nr. N 4, Abb. 
tEnde des 4. Jahrtausends. Katalog 34 f., 105 ff. 
tafel, Abb. 
5 Katalog 106 f., Nr. N 27, 2B, Farbtafel. 
' Katalog 106, Nr. N 26, Abb. 
7 Katalo 40 ff., Nr. 74 ff., Farbtafel, Abb. 
Venedi ov - Gerassimov, Thrakische Kunst, 26ff., l 
(im Katalog nicht angeführte Literatur), Abb. 32 ff. 
'Zum großen Gefäß, dessen Henkel urs rünglictt 
zogen waren vgl. P. E. Arias - M. irmer, A 
of Greek Vase PaintingbiLondon 1962), Tat. B. 
7 Katalog 47, Nr. 94, Ab . 
I" Katalog 49, Nr. 124, Abb. 
" Katalog 52, Nr. 134, Abb. 
" Katalog 52, Nr. 137, 139, Abb. 
"' Katalog 52 f., Nr. 140, Farbtafel. 
" Katalog 55, Nr. 145, 146, Abb. 
ß Katalog so r., Nr. m, Abb. 
ß Katalog 74. Nr. 267 rr. 
" Katalog 77 ff., Nr. 290 ff., Abb. 
" Katalog 80, Nr. 317 ff., Abb. 
1' Katalog 69 ff., Nr. 235 ff., Abb. 
f" Katalog 7D, Nr. 238 
7' Katalog 71, Nr. 245, Abb. 
n Katalog 70, Nr. 237, Abb. 
7' Katalog 70, Nr. 240. 
7' Katalog 73, Nr. 256, Abb.
	        
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