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Ausdruck verharrt gewissermaßen in Ruhe, die
Muskeln wirken entspannt. Darin kann man eine
Ausgangsposition sehen. in der sich Konzentration
und Spannung zeigen. Es scheint berechtigt, daß
man diesen Kopf an den Anfang der Betrachtungen
stellt. Ähnliche Feststellungen kann man für den
sog. "Zuverlässigenu treffen, der ebenfalls als
Selbstporträt ausgegeben wurde, aber keineswegs
mehr als zufällige Verwandtschaft mit derschon er-
wähnten Porträtzeichnung in Wien besitzt". Ein
schlafähnlicher Zustand läßt sich bei einem Kopf in
Budapest konstatieren (Abb. 5). Schlaf und Tod ste-
hen hier eng nebeneinander, und doch handelt es
sich nicht um eine bloße Maske oder um ein Toten-
bildnis. Man spürt, daß sich unter der Oberfläche
Leben befindet, das quasi in meditativer Ruhe ver-
harrt. Messerschmidt hat mehrere Ausdrucksmög-
lichkeiten nebeneinandergestellt, und doch gibt es
nur die eine, die einigermaßen befriedigend inter-
pretiert werden kann. Weniger mag es um eine be-
stimmte Person gehen, sondern mehr um die Schil-
derung eines physiognomischen Zustandes, der das
Thema der r-Fiuhee vermitteln soll. Ein wichtiges
Beispiel scheint der sog. nGelehrte-r zu sein (Abb. 4).
dessen wGelehrtheit-r sich nicht sofort eröffnet. Be-
sonders bemerkenswert ist, daß der Kopf eine an der
Stirn verknüpfte Schnur trägt. Das ist zunächst ein
sehr banales Motiv. das nicht seinesgleichen hat.
Unseres Erachtens gibt es dafür Vorbilder, und zwar
antike. Als Vergleich könnte man auch die vornehme
Binde Voltaires heranziehen, die von Houdon
wruban de Fimmortaliteu (wUnsterblichkeitsbinde-i)
genannt wurde". Antike Herrscherpersönlichkeiten
und Figuren der Antike besitzen solche Haarbinden,
die Unterscheidungsmerkmal bzw. Standeszeichen
zugleich waren." Diese Auszeichnung bedeutet
gleichermaßen eine Divinisierung der Person. Mes-
serschmidts "Gelehrter" ist wohl in bewußter An-
lehnung an antike Vorbilderentstanden, wobei aber
das Motiv selbst profaniert und banalisiert wurde.
Von einer Binde kann man ja wohl nicht sprechen,
sondern eher von einem gewöhnlichen Strick. der
noch dazu an der Stirne lose verknotet ist. Damit
wird auch die Vornehmheit derdargestellten Person
in Frage gestellt und die Wertigkeit verändert. Der
"Gelehrte-t ist somit eigentlich kein Ausgezeichne-
ter. sondern ein Bezeichneter. Die Umwertung eines
antiken Motivs ist an sich etwas ungewöhnlich. daß
es aber auf eine geradezu karikaturhafte Art und
Weise geschieht, scheint bemerkenswert und zeigt
eine wichtige Facette Messerschmidtscher Kunst.
Ein ähnlich banales Motiv findet sich bei dem
"Künstler, so wie er sich lachend vorgestellt hat"
(Abb. 6). Die Haube paßt nicht zu dem maskulinen
Gesicht. Hierwerden Attribut und Physiognomie ge-
radezu zwitterhaft vermischt. Ob es aber berechtigt
ist. von einer Karikaturzu sprechen, gerade weil der
soziale Bezug fehlt. ist fraglich. An einem ebenfalls
verwandten Beispiel. dem sog. "Erhängten", läßt
sich das hier Gesagte noch einmal verdeutlichen
(Abb. 7). Handelt es sich wirklich um einen Erhäng-
ten? Man erkennt symmetrische Muskelbewegun-
gen, die beinahe ornamental-dekorativen Charakter
besitzen. Der Künstler hatte genaue Kenntnis der
menschlichen Anatomie. Die Faltenlinien verlaufen
in geometrischer Regelmäßigkeit. die Augen sind
fest zugekniffen, die Nase schiebt sich wie ein Bug
nach vor und der Mund verformt sich zu einem
schnabelartigen Gebilde. Hier vereinigen sich Le-
bensgeist und Schalkhaftigkeit. nicht Todesangst
und Furcht. Messerschmidt wertete allerdings wie-
derum das Motiv des Galgenstricks so um. daß man
bei diesem Motivan ein banalisiertes Schmuckstück
denken könnte. das ganz eng um den Hals gelegt er-
scheint. Der Betrachter wird auch hier wiederum
eine Diskrepanz zwischen Aussage und Inhalt er-
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kennen können. Andere ähnliche Beispiele ließen
sich anfügen, etwa der "schmerzhaft stark Verwun-
dete-t oder der r-aus dem Wasser Gerettete-ß". Auch
hier werden nicht nur maskuline mit femininen Zü-
gen vermischt und vertauscht, sondern man kann
geradezu auch von einer Ornamentalisierung der
Gesichtszüge sprechen. Die Muskelbewegungen
spielen sich innerhalb eines strengen Liniengerü-
stes ab und geben der Anatomie spielerische Züge.
Im Werk Messerschmidts werden wir immer wieder
mehrschichtige Bedeutungsinhalte feststellen kön-
nen. die im wesentlichen die Problematik der Deu-
tung ausgemacht haben.
Es gibt dann einige Gegensatzpaare. die wie Ergän-
zungen zueinander aussehen und aufeinander Be-
zug nehmen. Dazu gehören der sog. i-Nieser-
(Abb. B) und der i-Satirikusu (Abb. 9). Die Schädel-
form bleibt dieselbe. wohl aber gibt es Unterschiede
in der mimischen Gestaltung. Man kann hier von der
Dominanz und Modifikation des Ausdrucks spre-
chen. Das heißt mit anderen Worten. daß die Köpfe
in ihrer Verwandlungsfähigkeit beurteilt werden
müssen. Es istzu beobachten. daß Partien der Phy-
siognomien gleich und konstant bleiben. der Aus-
druok der Augen, der Stirne sich verändert. Dies ge-
schieht durch den entsprechenden Einsatz der
Muskeln. Der i-Nieserii schildert keinen Augen-
blickszustand, sondern macht die Veränderbarkeit
und die mimische Variationsfähigkeit des menschli-
chen Gesichts deutlich. Aber diese Ausdrucksbilder
sind übersteigert, denn wie man sieht. sind die Au-
gen des nNiesersa nicht normal geschlossen, son-
dern fest und beinahe krampfhaft zugekniffen. Die
Nase ist fast immer der Mittelpunkt. Dersog. x-Satiri-
kus" zeigt in deroberen Partie das genaue Gegenteil
des Ausdrucks. Hier sind die Augen so weit als nur
moglich geöffnet.
im Oeuvre Messerschmidts gibt es dann immer wie-
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