schrieben: "Zu den vielen Verdiensten des "Simpli-
clssimus- zähle ich das große. daß er nicht lügt. Da-
her wird für den Historiker des 22. oder 23. Jahrhun-
derts. welcher das 19. Jahrhundert beschreibt, der
"Simplicissimus- die wichtigste und kostbarste
Quelle sein. welche ihm ermöglicht, nicht nur den
Zustand der heutigen Gesellschaft kennenzulernen.
sondern auch die Glaubwürdigkeit aller übrigen
Quellen zu prüfen. Ich kann nicht umhin. der Mei-
sterschaft der Zeichnung meine aufrichtigste Be-
wunderung zu zollen, obzwar ich in einigen Illustra-
tionen und Karikaturen nicht so viel moderne Nach-
lässigkeit und Übertreibung wünschen möchte. Im
ganzen glaube ich. daß die Malerei in Ihrer Zeit-
schrift viel mehr ihre Eigentümlichkeit zur Geltung
bringt. als dies in den vielen Ausstellungen ge-
schieht."
Der Norweger Olaf Gulbransson stieß 1902 zur
"Simpl-Redaktion". Und 1903 kam Albert Langen
nach fünfjähriger Abwesenheit zurück. Seinen 10.
Geburtstag feierte der "Simplicissimus" mit einem
Titelblatt von Th.Th. Heine. Die rote Schlagzeile lau-
tet: "Dies Blatt gehört dem Staatsanwalt." In äußerst
ironischer Weise klagt sich der "Simpl" selber an.
versichert aber dem verehrten Publikum. daß die
Bulldogge auch in Zukunft nichts von ihrer Bissig-
keit einbüßen werde. "Dies ist das Hundevieh. wel-
ches so unsägliches Elend über unserVaterland ge-
bracht hat und von allen anständigen deutschen
Wappentieren verabscheut wird."
Olaf Gulbransson: "Seit zehn Jahren vergiftet der
Simplicissimus das öffentliche Leben. Blicken wir
zurück! ! ! !"(10Jg.. Nr.1. S. 2. 1906.)
"Noch hatsich König Leopold nichtgebessert. wäh-
rend König Eduard nach Abbestellung des Abon-
nements merkliche Besserung zeigt. Noch treibt
der Goethebund sein Unwesen. und Leoncavallo
pflanzte erst kürzlich einen Kaktus vor das Denkmal
Richard Wagners. Kehrte nicht der liebe Gott der
Stadt Berlin den Rücken. nachdem ihn Mirbach
kompromittiert hatte. und fand man nicht sogar in
der Spree eine Kindsleiche. eingewickelt in die
neueste Nummer des Simpiicissimus? Und sah man
nicht jüngst einen Pastor. welcher mit seinem Ehe-
weibe die schlüpfrigen Stellen aus der Bibel zog?"
Ferdinand von Reznicek: "Alles das hat der Simpli-
cissimus verschuldet und mehr noch:
An der Riviera schossen die Eheirrungshotels wie
Pilze aus dem Boden. Bei höchstgesfellten Damen
wurden Sprachführer gefunden. Dem Mecklenbur-
ger Wappenochsen setzte ein Lakai neue Hörner
auf. Die Liebe. die bei den Affen als ein Naturtrieb. im
niederen Volke als eine Gemeinheit erkannt wurde,
entartete bei den Prinzessinnen zur Geisteskrank-
heit." (10. Jg., Nr. 1. s. 4. 190a)
Thomas Theodor Heine: "Auch diedeutsche Familie
hat der Simplicissimus vergiftet:
Der Vater verlor seine Königstreue und sägt heim-
lich Telegraphenstangen ab. die Mutter besucht in
ihrem Brauthemde die Redouten. die Tochter
schreibt Memoiren aus dem Nuttenkeller. der Sohn
bohrtein Guckloch in die Schlafzimmertürund zeigt
seine Eltern wegen Konkubinates an. Auch der Hund
dieser unglücklichen Familie verliert jeden morali-
schen Halt und kompromittiert sich mit einem War-
zenschwein. Trotzdem konnte sich der Raubmörder
Allranseder nicht entschließen. vor Dienstag ge-
köpft zu werden. um noch die neue Nummer des
Simplicissimus zu sehen." (10. Jg.. Nr. 1. S. 6. 1906)
Die "Simpl-Redaktion" überraschte 1905 aber auch
ihren Chef. den Verleger Albert Langen. Ihrer An-
sicht nach verdiente er zuviel und zahlte zuwenig.
Die Folge war eine "Palastrevolution". Entweder fi-
nanzielle Beteiligung oder Gründung eines Konkur-
renzblattes. Der überrumpelte Langen gab nach,
und der "Simpl" war zu einer GmbH geworden.
Als im November 1908 der erst 35jährige Rudolf
Wilke starb, verlor der "Simplicissimus" -darin war
man sich einig - den künstlerisch Begabtesten und
.14
menschlich "Prachtvollsten". Ein halbesJahrspäter
war auch Albert Langen tot. Im offenen Auto war er
dem Zeppelin nachgefahren und hatte sich dabei
eine Mittelohrentzündung zugezogen, von der er
nicht mehr aufstand. Die Schriftleiste oben auf dem
Titelblatt des "Simplicissimus" änderte sich: aus
"Herausgegeben von Albert Langen" wurde "Be-
gründet von Albert Langen und Th.Th. Heine". Nur
eine Woche nach dem Begräbnis Langens starb
auch der populäre Ferdinand von Reznicek.
In der "Simpl-Redaktion"
Albert Langen. einer der wesentlichen Verleger der
Jahrhundertwende. wurde 1869 in Antwerpen gebo-
ren. Er war Sohn einer rheinischen lndustriellenfa-
milie. wuchs in Köln auf. verlor früh die Eltern und
verließdie Schule ohneAbschluB. Finanziell bestens
abgesichert. ließ er sich zunächst in Paris nieder. wo
er die für sein weiteres Leben entscheidenden Ein-
drücke empfing und eine beträchtliche Zahl interes-
santer Menschen kennenlernte. "Am 1. Dezember
1893 ging an den deutschen Buchhandel ein Zirku-
lar hinaus, in dem Albert Langen. Paris. 112 Boule-
Üßllaic
.-......_....-.--..-...-
4 Thomas Theodor Heine. "Durchs dunkelste Deutsch-
Iand.4"-"Die Freiheit derWissenschaft" (1900)-"Euch
Prolessorenbande will ich schleifen. bis ihr mich nicht
mehr von einem Kultusminister unterscheiden könnt!"
Original 35 x 30.5 cm. Tusche. Pinsel. Feder. Deckweiß.
Gouache; Farben: Blau. Braun: bez.u.li. iTTH-. Mün-
chen. Städtische Galerie im Lenbachhaus (lnv. Nr. Heine
40)
5 Thomas Theodor Heine. -Die Lösung der sozialen Fra-
ge" (1B98)--Sie haben völlige Freiheit. mein Lieber. Sie
können nach rechts oder nach links gehen. ganz wie Sie
wollen." Original 134x315 cm. Tusche. Pinsel. Feder.
Deckweiß. Raster. Gouache: Farben: Braun. Blau;
be1.u.li. -'l'l'H-. München. Städtische Galerie im Len-
bachhaus (lnv. Nr. Heine 30)
6 Ferdinand von Reznicek. "Ekstase" (1898) - "Ich
möchte dir einen Maulkorb umbinden und dich Caro
nennen!" Druckfarben: Gelb. Braun. Simpl.: Jg. 3.
Nr. 29. S. 228. ganzseitig
vard Malesherbes. verkündete. daß er einen "Buch-
und Kunstverlag- gegründet habe und daß -reiche li-
terarische Erfahrungen sowie gute Verbindungen
mit hervorragenden Schriftstellern" ihn in den Stand
setzen. dem deutschen Buchhandel baldigst Mittei-
lungen über demnächst bei ihm erscheinende -in-
teressante Novitäten- zugehen zu lassen. und daß
-mit dem heutigen Tage" als erster Nerlagsartikel"
der Roman "Mysterien" von Knut Hamsun erscheine.
der "elegant broschiert M. 5-" kosten solle." Das
schrieb Langens Mitarbeiter Kcrfiz Holm in seinen
Erinnerungen "Farbiger Abglanz". Fischer in Berlin
hatte "Mysterien" trotz eines angebotenen Druck-
kostenzuschusses nicht verlegt. da Hamsuns "Hun-
ger" bei S. Fischer ein finanzieller Mißerfolg gewe-
sen war. Der Albert-Langen-Verlag zog 1894 von
Leipzig nach München um. Zehn Jahre später hatte
Langen 389 Werke von 117 Autoren verlegt (ca.
1250000 Bücher).
"Der Simplicissimus" war bei seinem Erscheinen im
April 1896 die überraschendste. bei allem Draufgän-
gertum künstlerisch höchststehendeWochenschrift
Deutschlands und der deutschsprechenden Län-
der". urteilte Arthur Holitscher in der "Weltbühne"
(11. 9. 1924). Im "Börsenblatt für den Deutschen
Buchhandel" vom 26. 3. 1896 war zu lesen: "Simpli-
cissimus. Illustrierte Wochenschrift. Herausgeber
Albert Langen. Heute gelangt in Leipzig zur Versen-
dung N0. 1 (vom 4. April) und wird an alle Besteller
gratis als Probe-Nummer geliefert. Inhalt: Illustra-
tionen von Herrn. Schlittgen. Th.Th. Heine. A. Jank.
Texte von Frank Wedekind. Jakob Wassermann. Ar-
thur Holitscher. Richard Dehmel, Carl Busse. Theo-
dor Wolff. Mia Holm. Georg Herwegh. Robert Prutz
. . . Die bedeutende Auflage von 300000 Expl. ist bis
auf wenige Tausend im voraus bestellt. . . Bezugs-
bedingung: Jede Nummer 10 Pfg ord.. 6 Pfg bar."
Über Auflagenhöhe und Verkauf des ersten Heftes
liegen sehr unterschiedliche Angaben vor: zwischen
100000 bis 480000 Exemplaren schwankt die Aufla-
ge. verkauft wurden 500 bis 10000 Exemplare. Auf
alle Fälle war der Verlag für lange Zeit mit reichlich
Makulaturpapier eingedeckt.
Der rote Simpl-Hund war sehr bald überall zu sehen.
und viele fühlten sich von ihm heftigst gebissen. Va-
ter der roten Bulldogge ist Th.Th. Heine. 1867 in
Leipzig geboren. Die künstlerische Bedeutung die-
ses überragenden Satirikers und treffsicheren Kari-
katuristen hat Lovis Oorinth in seinem Buch "Le-
genden aus dem Künstlerleben" nachdrücklich ge-
würdigt. "Wohl kein Künstler ist unter unsern gebil-
deten Volksschichten allgemeiner bekannt als
Thomas Theodor Heine. Man kann sagen. sein Mo-
nogramm kennt fastjedes Kind. Geliebt ist er wenig.
desto mehr gefürchtet und weil er nicht vor dem Al-
lerheiligsten. das ein jeder besitzt, haltmacht. son-
dern auch hier grausam an unser Herz faßt. von vie-
len bitterlich gehaßt. . . Es gibt wohl keinen Kunst-
zweig. in dem ernicht tätig gewesen wäre. und so ist
es gekommen. daß Thomas Theodor Heine trotz sei-
ner echt künstlerischen Eigenart in die breiten
Schichten des Publikums gedrungen ist und alseine
derwichtigsten Personen für die Erziehung des Vol-
kes genannt werden muß." Th.Th. Heines Vater war
Fabrikant. die Mutter stammte aus Manchester.
Schon während der Schulzeit fiel Heine peinlich auf
mit Zeichnungen für die "Leipziger pikanten Blät-
ter". Er studierte an der DüsseldorferAkademie und
in München. Den Malerfürsten Franz von Lenbach
und das Münchner Kunstleben lehnte er entschie-
den ab; sein Vorbild wurde Wilhelm Leibl. Heine ar-
beitete für die "Fliegenden Blätter". "Die Entschei-
dung für Heine brachte erst das Jahr 1896. als der
wohlhabende und experimentierfreudige Verleger
Albert Langen. angeregt durch den Pariser -Gil
Blas-. in München den "Simplicissimus" gründete.
Heine ist gleich von Anfang an mitZeichnungen ver-
treten. aber seine anfänglich mehr historisierend-
biedermeierliche und von zeitgemäßen Jugendstil-