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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXIII (1978 / Heft 160 und 161)

rie, auf einen ästhetischen Zweck hin ausgerichtete 
(Joyce, Seite 51152). 
Joyce schrieb die angeführten Passagen 1903, da- 
mals 21 Jahre alt. in sein tagebuchartiges "Pariser 
Notizbuchß. 
Rund 40 Jahre später definierte der Kunsthistoriker 
Erwin Panofsky in einer amerikanischen wissen- 
schaftlichen Zeitschrift das Phänomen Kunstwerk 
ganz ähnlich als "einen vom Menschen angefertig- 
ten Gegenstand. der ästhetisch erlebt werden willw 
(E.P., Kunstgeschichte als geisteswissenschaftliche 
Disziplin; Erstveröffentlichung in englischer Spra- 
che 1940; deutsch als Teil der Aufsatzsammlung 
"Sinn und Deutung in der bildenden Kunst", Köln 
1975. Seite 19). 
Vom Menschen angefertigte Gegenstände, die nicht 
ästhetisch erlebt werden wollen, nennt Panofsky 
kurz "praktischem Dazu gehören neben vielem an- 
deren "Kommunikationsmittel und Werkzeuge und 
Apparate. Ein Kommunikationsmittel hat die "Inten- 
tion-, einen Begriff zu übermitteln. Ein Werkzeug 
oder Apparat hat die ilntentiont, eine Funktion zu er- 
füllenu (Panofsky, Seite 17). Die Übergänge sind 
fließend. Ein Beispiel dafür. wie aus einem "prakti- 
schen" Gegenstand Kunst werden kann, stellt Pa- 
nofsky im folgenden vor Augen vor: 
"Wenn ich meinem Freund schreibe, um ihn zum 
Abendessen einzuladen, ist mein Brief in erster Linie 
Kommunikationsmittel. Doch je mehr Gewicht ich 
auf die Form meiner Schrift lege, um so mehrwird er 
ein Werk der Kalligraphie; und je mehr ich die Form 
meiner Sprache betone (ich könnte sogar so weit 
gehen, den Freund mittels eines Sonetts einzula- 
den). um so eher wird der Brief ein Werk der Litera- 
tur oder der Philosophie-i (Panofsky, Seite 18). 
Kunst sei "in erster Linie formale Gestaltung im 
Sinne der Schönheit. Damit kann sich, aber muß 
nicht. eine Darstellung von sachlichem Gehalt und 
ein Ausdruck von Gefühl oder auch nur eines von 
beidem verbinden-t. meinte der Wiener neopositivi- 
stische Philosoph Viktor Kraft mit viel Grund (V.K., 
Einführung in die Philosophie, Wien 1950, Sei- 
te 136). 
Kunst kann in (ungegenständlich-) formaler Gestal- 
tung nahezu völlig aufgehen, wie in den Ornamen- 
ten des Kunstgewerbes - der Tapisserie der Töpfe- 
rei, des Stoffdesigns zum Beispiel -, wie in abstrak- 
ter Malerei und Plastik. Kunst kann Gefühl und 
Stimmung ausdrücken, mit ungegenständlichen, 
mit gegenständlichen Mitteln, wie sie sich ja in wei- 
testem Maße auch imstande zeigt, die optisch un- 
mittelbar erscheinende Welt darzustellen. 
Die Grundprinzipien von Harmonie und Disharmo- 
nie (dieser als Steigerungsmittel innerhalb der das 
Werk beherrschenden Gesetze, als Charakteristik 
seines Gegenstandes), von Proportion und Flächen- 
teilung, von Rhythmus. von Einander-Zuordnung, 
Über- und Unterordnung der Teile und gegliederter 
Ganzheit sind überall dieselben. Sie machen die 
Schönheit eines Werkes auch noch bei grausigster 
Thematik aus- jene Beschaffenheit eines Werks, die 
Gefallen erregt (Kraft, Seite 134), jener ästhetische 
Zielsetzung. aufdieesJoyce ankommt, und auch die 
"Intention-i des Kunstwerks, welche Panofsky 
meint. 
5, "Die Kunst geht aufs Ganze" 
Die Grundsätze des Schönen, die Gesetze der Ei- 
genart des Ästhetischen überhaupt sind für alle Zei- 
ten, alle Breiten dieselben. Was Schwierigkeiten be- 
reitet, ist der Gebrauch des Wortes Schönheit, nicht 
um eine Grundgesetzlichkeit, sondern um ldealität 
zu bezeichnen. einer Auffassung des Künstleri- 
schen, des Ästhetischen entsprechend, welche so 
gernediejeweils besonders geschätzte Richtung als 
die allein repräsentative und qualitative ansieht. 
Man kennt dies aus der Werkgebundenheit solcher 
Künstler, welche, wiewohl gleichrangig. einander 
nicht verstehen und ausstehen können, weil ihre 
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wechselseitigen Ideale der Schönheit so sehr von- 
einander verschieden sind (Goethe verstand Kleist 
nicht, Schiller hielt Haydns "Schöpfung-r für einen 
"charakterlosen Mischmaschw, Lenau fand in 
Schubert "zuviel Dissonanzen". Gottfried Keller 
hieß Zola "einen ganz gemeinen Kerl". Kokoschka 
hält Picasso heute noch für einen Scharlatan usf.). 
Man kennt das Phänomen schließlich und vor allem 
auch aus dem Wechsel der Zeitalter, weiß, daß die 
Gotik von der Romanik nichts hielt und sie, wo sie 
nur konnte, abmurkste, der Barock, wenn sich's nur 
irgendwie machen ließ, die Gotik erdrückte, der 
Klassizismus den Barock mißachtete usw, Erst die 
im Verlauf des 19. Jahrhunderts aufkommende hi- 
storische Betrachtungsweise hat da einigermaßen 
Wandel geschaffen. Schönheit als ldealität greift 
immer einen Aspekt der Kunst aus der unendlichen 
Vielfalt des Möglichen in derKunst heraus, stellt ihn 
gewissermaßen auf ein Piedestal. Wer das erkannt 
hat, weiß schon viel, steht auch dem Pluralismus im 
heutigen Kunstbetrieb mit einiger Fassung gegen- 
üben 
 
22 Meister Bertram, Petri-Altar: "Erschaffung der Tieren 
1371-1353. Hamburg, Kunsthalle 
Die Kunst ist aber nicht allein ästhetisch. S 
Sprache. Auch alles das, was Hofmann in 1 
Ausstellung als Leistungen von Kunstwerke 
führte, und noch eine ganze Menge dazu läßts 
jener Auffassung von Kunst als "polyfunktic 
System" unterbringen, welche der russische} 
tiker Mossej Kagan pflegt, indem er in großen 
pen eine kommunikative von einer aufkläre 
bildenden. einer erzieherischen und einer h: 
stischen Funktion der Kunst unterscheidet 
Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen i 
tik, deutsch, Berlin, Seite 510 ff.). 
"Nicht alles an der Kunst ist ästhetisch. Hierg 
vielmehr außerdem noch intellektuelle, sozial: 
giöse, sittliche Momente, illustrative, demonst 
kultische, spotropäische (abwehrende) und pi 
tische (zur Tat aufrufende) Funktionen", hi 
auch schon bei Friedrich Kainz (F.K., Vorlesi 
über Ästhetik, Wien 1948, Seite 17). 
Kunst ist immer das vom Menschen zu ästheti 
Zwecken Gestaltete, würde ich, Joyce, Panofsl 
folgend, selber vor allem sagen und mir dabei 
einreden lassen, daß dies eine ähnlich willkü 
Setzung sei wie das famose Sprüchlein "Alle: 
als Kunst betrachtet werden", das jajeglichei 
nünftigen, auf Orientierung in der Welt, auf l 
scheidung ausgehenden Sprachgebrauch i 
spricht. 
Der Orientierung in derWelt zu dienen ist schli 
auch eine der Funktionen des "polyfunktior 
Systems Kunst (davon handelte schon Arist: 
als er das Vergnügen, das die Menschen empfi 
wenn sie Kunstwerke genießen, von den Fr: 
der Erkenntnis herleitete, die ihnen dadurch 
würden). 
Kunst ist Selbstinterpretation und Weltinter 
tion des Künstlers im Medium von etwas Sinnli 
und schließlich-auch die spielerische Freuc 
Umgang mitdiesem Medium selber. Sie ist nic 
Spiel, sondern auch Arbeit. erstens mit St 
worin etwas ausgedrückt oder dargestellt 
zweitens mit Gegenständen, Sachverhalten, Vl 
es bei dieser Auseinandersetzung geht: Dinge 
lnnen- oder Außenwelt, vorgestellten oder n 
Wo die griechische Poesie zum erstenmal vo 
Aufgaben des Dichters spricht, in Hesiods "Th 
nie-i, nennt sie dieWahrheit, und diese schließi 
das Haßliche im physischen und moralischen 
mit ein. 
Das ideal der Wissenschaft ist die Fassung vr 
kenntnissen in mathematische Formeln. ii 
Kunst aber bejaht sich der Mensch mit dem D: 
und allen seinen Sinnen. Kunst will nicht I'll 
kenntnis, sondern auch das Erlebnis. Sie "geh 
Ganze, dringt vor bis zu den letzten unbewußte 
innersten Gefühlsregungen. wendet sich an 
Denk- und Gefiihlswelt zugleichß (J.R. Bechi 
Manfred Naumann, Gesellschaft, Literatur, L 
Berlin 1973, Seite 27). 
Daß die Sache mit Kadishmans Schafen unc 
Stier Paradisos überhaupt nichts mit Kunst z 
hat, wird man nach dem Gesagten nicht noc 
sondert unter Beweis stellen müssen. Rück 
Stein, an dem ja zu w-künstlerischens Zwecke: 
Weile hin und her gerückt wurde, und Boyles! 
und Erdcollagen und in Rahmen gebrachte M 
abgüsse darf man in jene Kategorie einreihe 
Wladimir Weidle bei dem Salzburger Humani: 
gespräch von 1967 mit einem glücklichen Aus 
"das minimale ästhetische Objekte genannt h: 
den Spurensicherern aus Frankreich und Holla 
weitgehend nicht einmal das erlaubt. 
Ü Anschrift des Autors. 
Prof. Johann Muschik 
Kunstkritiker 
Kegelgasse 401115136 1030 Wien
	        
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