Thomas Zaunschirm
Raum, Zeit und Licht
bei Henry Moore
Thomas Zaunschirm
Raum, Zeit und Licht
bei Henry Moore
wö Steinitz (1939- 1979) gewidmet.
Vorbemerkung
Der folgende Versuch ist eine Stilanalyse des Le
benswerkes von Henry Moore. Über Henry Moore
ist wahrscheinlich mehr als über jeden anderen
Künstler unseres Jahrhunderts geschrieben wor-
den. Wozu also ein neuer Anlauf - noch dazu ei-
ne Stil-Analyse? ist der Stilbegriff nicht längst ad
acta gelegt, hat er sich nicht immer mehr, vor al-
lem in Konfrontation mit dem 19. Jahrhundert, von
der iiModerneri gar nicht zu schreiben, als untaug-
liches Mittel kunsthistorischer Interpretation er-
wiesen? Hat man nicht schon vor Jahrzehnten zu
Recht geschrieben, der Stilbegriff gehe am Einzel-
werk vorbei und vermag uns darüber wenig zu er-
klären?
Ohne diese und andere Einwände entkräften zu
wollen, rechtfertigt die Tatsache, daß Werke als
einer bestimmten Zeit zugehörig erkannt werden
können, von einem Stil zu sprechen.
"Stil" muß deshalb nicht mit der traditionellen Be-
deutung (und ihrem Anspruch) identifiziert werden
- auch der iiStilu hat seine stilistische Entwick-
lung durchgemacht - noch muß die klassische
Methode der Stilanalyse als einzig gültige über-
nommen werden. Ihre Klassiker folgten einem
linearen Schema, das von einem räumlich verstan-
denen (z. B. haptisch, kristallin etc.) zu einem zeit-
llch umschriebenen (z. B. optisch, malerisch-De
wegt) Grundbegriff führte. Das machte gerade die
Raum- und Zeitproblematik unsichtbar, der Raum-
begriff blieb vieldeutig verschwommen, der Zeit-
begriff weitgehend unberücksichtigt. Erst mit der
neueren Kritik am Stilbegriff errang auch die
"Zeitrt mehr Aufmerksamkeit.
Die Entwicklung von Formen ist Abfolge von
raumzeillichen Einheiten. Stil hat niemals vom
Raum zur Zeit geführt (wie sich das A. Riegl und
H. Wölfflin implizit vorstellten), sondern immer in
jeder Phase RaurnZeit vorausgesetzt. Was heißt
das konkret?
Die Erkenntnis von Raum-Zeit ist heute vom Welt-
bild der Naturwissenschaften geprägt. Von daher
sind zu Beginn einige axiomatische Bedingungen
zu begründen.
Der Begriff Raum-Zeit umfaßt als Kontinuum die
vierte Dimension der gesamten Wirklichkeit und
ist nicht vorstellbar. Der Mensch als Teil dieser
Wirklichkeit spaltet sie in Raum und Zeit auf, ver-
sucht sie jedoch indirekt zu rekonstruieren, zu er-
schließen. Die Vorstellung eines dieser Teile ist
nicht von der des anderen zu trennen. Die Aussa-
ge der klassischen Physik, der absolute Raum exi-
stiere unabhängig von darin bestehenden Kör-
pern, bedingt die absolute Zeit, die, desgleichen
unabhängig von Veränderungen, eindimensional
verläuft (Flaum und Zeit herrschen sozusagen un-
berührt wie der Stil über allen Veränderungen). Da-
gegen geht seit der Allgemeinen Relativitätstheo-
rie A. Einsteins die Vorstellung dahin, daß der
Raum erst durch die Massen konstituiert wird und
die Zeit jeweils von den Eigenschaften (Krüm-
mung) dieser Teilräume abhängig ist.
Der Kunsthistoriker kann sich davon zunächst
zweierlei zunutze machen. Erstens sollte er die
Verwendung des Terminus "Flaum" von der jewei-
ligen Form abhängig machen - fehlt eine formale
Bestimmung, wird der Begriff Raum inhaltsleer.
Zweitens entspricht dem von Formen her definier-
ten Raum immer eine bestimmte Zeit. Zeit soll zu-
nächst auf die einfachste Weise als "Parameter
jeder Veränderungu definiert werden.
In der Auseinandersetzung der lnterpretation ist
nZeitr von der formal-räumlichen Komponente
nicht zu trennen, d.h. manche Plastiken sind an
beliebigen Orten aufstellbar, andere verändern
sich dadurch und damit auch die Wahrnehmung
des Betrachters. Diese "Veränderungen-r sind
nicht materieller Natur, es entstehen nicht andere
Formen, sondern dieselben akzentuieren sich, und
dabei spielt das Licht die entscheidende Rolle.
Strahlt eine Lichtquelle in gleicherWeise zwei Ge-
bilde an, können deren Erscheinungsweisen sehr
verschieden sein, indem sie ihrer räumlichen und
zeitlichen Struktur gemäß reagieren, das Licht
aufnehmen bzw. reflektieren.
Um dergleichen zu untersuchen, ist es notwendig,
das Problem der "ästhetischen Grenzen zu verges-
sen. Dieses Scheinproblem setzt allgemeinen
"leerem Raum gegen den Raum der Kunstwerke
ab. Aber jede Form schafft ihren eigenen Raum,
wie zu zeigen ist, und der Raum einer Plastik hört
erst dort auf, wo sie nicht mehr sichtbar ist, und
nicht dort, wo der irrealen, "empirischen Raum, der
eine idealisierte Fata Morgana ist, beginnt. Zu den
ausdrücklich als Kunstwerke geschaffenen Din-
gen unserer Umwelt sehe ich keinen grundsätzli-
chen Unterschied (die nicht gestaltete Umwelt
aber nehmen wir gestaltend wahr, interpretieren
sie mittels unseres Vorverständnisses). Mit der
Zeit verhält es sich nicht grundsätzlich anders.
Jede Stilanalyse benützt Vergleiche, dabei kann
es nicht um absolut richtige Beschreibungen ge-
hen. So sind auch die folgenden Darlegungen der-
art zu relativieren.
1 Henry Moore, Mutter mit Kind, 1925
Raum und Licht
Das Frühwerk wMutter und Kind" (1925, Abb. 1) ist
vollplastisch geschaffen, als autonome Einheit
ohne Bruch und Unregelmäßigkeit im Material. Ei-
ne Ansicht laßt die anderen Seiten erschließen,
dabei sind keine Überraschungen zu erwarten. Die
Einheit des Themas ermöglicht zugleich die räum-
liche Orientierung. Raum ist dabei das Werk
selbst, der von dessen Oberfläche begrenzt ist.
Man kann die Skulptur an einen beliebigen Ort
stellen, es wird sich an ihr selbst nichts andern.
Sowohl die dabei auftretenden Veränderungen
des Umraumes oder Hintergrundes wie die Licht-
verhältnisse sind irrelevant. Der Umraum kann als
Folie, Kontrast wirken, nicht als Ergänzung, Erwei-
terung, Teil der Plastik.
Das Licht vermag in seinen Wandlungen, vom in-
differenten Licht bei Bewölkung bis zu künstlicher
Bestrahlung, lediglich auf der Oberfläche als
Glanz wirken, die Schattenzonen sind plastische
Modellierung und Erkenntnis- bzw. Wahrneh-
mungsstützen. Einer Grenze zwischen Licht und
Schatten entspricht eine formale Gegebenheit in
plastischer Weise. Der Raum-Körper ist für die
visuelle Wahrnehmung identisch mit Licht-
Schatten. Ein Aufeinandertreffen von Licht und
Schatten in einer bestimmten Zone läßt z. B. einen
Arm erkennen; das Dunkel darüber oder darunter
ist nicht das Unbekannte, es kann hier nichts Un-
vorhersehbares, etwa eine Höhlung in den Leib
dieser Plastik, erwartet werden.
Das hat sich in der "Saitenplastiku (1933, Abb. 2)
geändert. Dies hängt nicht nur von der Tatsache
ab, daß es eine ungegenstandliche Plastik ist, daß
eine nicht sichtbare Seite in ihrem formalen Ver-
lauf schwerer vorgestellt werden kann. Sicher gibt
es ein Spektrum von Möglichkeiten, und darüber
hinaus ist es unwahrscheinlich, daß beliebige For-
men (etwa gegenständliche) hier anzutreffen sind.
Die entscheidende Neuerung betrifft das Aufge
ben kompakter materieller Körperlichkeiten. Der
Körper ist als einander zugeordnete Spannungs-
verhältnisse aufgefaßt, innerhalb einer plasti-
schen Hülle. Darüber ragt ein Teilstück flossenar-
tig empor, das mit dem Rumpf mittels Saiten ver-
bunden ist, in ähnlicher Weise wie die Ober- und
die Unterseite des aufgebrochenen offenen
Rumpfes miteinander verspannt sind.
Denkt man die Verspannung des oberen aufragen-
den Teilstückes weg, entfällt die gerichtete Bezie
hung, der damit verknüpfte Teilraum löst sich auf,
das Stück bildet nur noch sich selbst als Stück-
raum ab.
Die parallelen Saiten, die in dreifacher Weise den
lnnenhohlraum des Werkes gliedern, konstituie
ren drei sich überlagernde Aspekte, Teiiraume.
Nur wenig dringt von diesem Gebilde nach außen.
Eine Licht-Schatten-Grenze bedeutet bei der "Sai-
tenplastiku nicht notwendigerweise einen körper-
lichen Bruch wie bei der "Mutter mit Klfidrr. Sie ist
Antwort auf die bestehende Lichtsituation. Wenn
wir nach der Beschaffenheit der Rückwand im ln-
nern fragen, können wir das ohne Ausleuchtung,
ohne einen Blick hinein nicht beantworten. Ändert
sich der Winkel der Beleuchtungsquelle, verläuft
die Licht-Schatten-Grenze entsprechend der Mo
dellierung stulenlos anders. Nicht so beim ersten
Beispiel, wo eine Licht-Schatten-Grenze orga-
nisch identifizert werden kann, dem tatsächlichen
Verlauf einer plastischen Form entspricht.
Die Saiten nehmen in anderer Stofflichkeit, trans-
parent doch sichtbar, am Licht-Schatten-Spiel teil.
Sie mögen die Skulptur in den materiell nicht er-
faßten, d. h. nicht ausgefüllten Frei-Teil-Raum wei-
terführen (wie in der Abbildung des Werkes) oder
Licht- bzw. Schatteninseln bilden, die sich bei Dre
hung des Werkes oder Veränderung einer Licht-
quelle ständig wandeln.
Durch den Mangel an thematischer Erschließbar-
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wö Steinitz(1939-1979) gewidmet.