Glied unbewegt ist; es stürzt auf seinen Mann los,
es weicht zurück, es knirscht und brüllt. Aber es
ist ein halbstummes, unartikuliertes Element, für
dessen Bewegung das künstlerische Prinzip
fehltmu. Weiter noch als die Masse, die ein Ge
sicht fordert und durch die neuen Bewegungsva-
rianten die eindimensionale Ausrichtung sprengt,
kann der große einzelne ausgreifen, wenn er stark
verkörpert über die ganze Bühne verfügt. Über
dem Relief des bacchantischen Zuges an der Atti-
ka des Burgtheaters thront der schöne Gebieter
Apoll. Hinter dieses Bild weist der Kritiker Speidel.
Er schrieb über Charlotte Wolter als Lady Mac-
beth bei ihrem Gastspiel in München im Jahr
1880: "Sie arbeitete ihr Rolle vorzugsweise auf
das sinnliche sichtbare Bild hin. In Maske und Ge
wandung steht ihr Hans Makart zur Seite, über
Gang und Stellung zieht sie Fanny Eißler, die be-
jahrte Grazie des Tanzes, zu Rate. Frau Wolter be
wegt sich hier ganz im Malerischenß "ln dem Mo-
ment, da die Gäste sich entfernen, fällt ein Höhe
punkt von Frau Wolters malerischer Darstellung.
Sie schreitet die Staffeln empor, setzt sich an eine
Ecke der vereinsamten Tafel, zieht eine Seite des
Purpurmantels hinauf bis an das Gesicht, stützt
ihr gekröntes Haupt auf eine Hand und sitzt nach-
denkend, träumerisch da: ein entzückender Stoff
für das Auge. Man möchte von hier zurückblicken
auf die Auffassung der Rolle, sie auf ihren Sinn
befragen. ist nicht das Malerische zu überwie
gend, das gesprochene Wort und der unter ihm lie
gende Verstand zu sehr vernachlässigt? Ja, Frau
Wolter springt mit dem gesprochenen Wort zu
wild um, verkürzt es in seinen Rechten und ist in-
sofern kein ganz echtes Kind des Burgtheaters,
dessen Erstes und Letztes das gesprochene Wort
isttt "Doch würde man sich täuschen, wenn man
annehmen wollte, daß ihre malerische Behand-
lung der Rolle rein äußerlich sei; im Gegenteile, in-
dem sie zum Auge spricht, spricht sie auch zum
Gemütmu. Da man sich auf dem Burgtheater kei-
ner neuen, extremeren Sprache bedienen wollte,
um die Leidenschaften der Menschen neu zu ent-
decken, ihr- Innenleben aufzureißen, wählte man
das Extrem optischer Darbietung. Der Huldi-
gungsraum des Theaters hatte nach dem Rückzug
des Regenten aus der Mitte des Saales, aus der
zentralen Führungsposition in den Hintergrund
oder in die Inoognito-Loge seine Bedeutung einge
büßt. Die erste Form des Zuschauerraumes im
1888 errichteten Burgtheatergebäude war in sei-
ner zu starken Ausrichtung auf die Hoffestloge für
eine gute Beziehung zwischen Zuschauern und
Schauspielern so unbrauchbar, daß er 1897 völlig
abgeändert wurde, man sprach beschönigend von
"Rekonstruktionrr, auf die Ranglogenform wurde
allerdings nicht verzichtet. Einem höheren Selbst-
verständnis der Darsteller, einer Öffnung des Büh-
nenraumes in den Freiraum und einer offerieren
Bindung des Hofes zur Stadt entspricht auch der
Makartfestzug (1879) als großes Zeichen der Zeit.
Den keineswegs dramaturgisch progressiven,
eher trivialen Großteil des Burgtheaterspielplans
um 1880 halten Konversationsstücke und Effekt-
komödlen wie "Fromont junior und Risler senioru,
"Der Hüttenbesitzeru, "Eine vornehme Ehen, "Ein
verarmter Edelmann-r, "Der Bibliothekar", "Wild-
diebeu oder "Der Veilchenfresseru. Über das hier
nur mäßig erhöhte Gemütsniveau reicht die Le
bendigkeit groß gedeuteter historischer Dramen,
in denen entweder der Masse oder den großen ein-
zelnen vor der Staffage als bedeutungssteigern-
dem Hintergrund der Mittelpunkt zugewiesen ist.
Obwohl Laube dem Dichter Friedrich Hebbel die
wirksame plastische Phantasie absprach, und
Hebbel für Alfred v. Berger zu sehr pro theatro in-
terno arbeitete, um einer einfachen DarsteIlbar-
keit entgegenzukommen, vollendete er mit seinem
späten Kolossalwerk, den "Nibelungen", eine
wichtige Phase der Historiendramatik. Er stellte
"das aus dem ursprünglichen Nexus entlassene
Individuum dem Ganzenu gegenüberzz; das hat bei
ihm zur Folge, daß das Drama "nicht bloß in seiner
Totalitatii, "sondern daß es schon in jedem seiner
Elemente symbolisch ist und als symbolisch be-
trachtet werden muß, eben so wie der Maler die
Farben, durch die er seinen Figuren rothe Wangen
und blaue Augen gibt, nicht aus wirklichem Men-
schenblut heraus destilliert, sondern sich ruhig
und unangefochten des Zinnobers und des Indi-
gos bedientzzu. Um den unsichtbaren Ring, der ein
dramatisches Kunstwerk umschließt, zusammen-
fügen zu können, müsse bei einzelnen Hauptcha-
rakteren meist ein Maß verwendet werden, das in
seinem Welt- und Selbstbewußtsein die Wirklich-
keit bei weitem überschreitet. Hebbels Ansicht
könne an Shakespeare und Aeschylos nachge-
prüft werden und Bestätigung finden. Hebbel ver-
sucht, mit Mitteln, die auf die Wirkung des Ganzen
zielen, eine Vereinigung des sozialen, histori-
schen und philosophischen Dramas zur Deutung
des welthistorischen Prozesses seiner Tage, in
dern "die vorhandenen Institutionen des menschli-
chen Geschlechtes, die politischen, religiösen
und sittlichen" um ihr Recht kämpfen; ähnliche
Krisen der Geschichte mit dem Übergang von Nai-
vität zu Reflexion habe es zuvor nur in der griechi-
schen Antike und zu Shakespeares Zeit
gegebenzz; die Alten legten das Schicksal bloß,
Shakespeare emanzipierte das Individuum. Man
überhöhte das Individuum ins Typische, um nicht
zu sehr ins Genre zu geraten, auf dessen locke
rem, engbegrenzten Boden die große Form zerfal-
Ien wäre. Bei historischen Dramen zielte man auf
mehr als konventionelle Konversation über
schwächliche Konflikte: auf leidenschaftliche
Spielarten um Leben und Tod.
"Die Familie der Cäsarennu am Beginn des römi-
schen Kaiserreichs war innerhalb der Tradition
des Christentums die früheste Zeit großer Tyran-
nen. Die Julier wurden bei tragfähigen Schauspie
Iern in historistischer Deutung zu extrem formu-
lierten Individualitäten, das übersteigerte lchge
fühl wurde mit greller Ornamentierung van die
Stelle des Gesamtgefühlesu gesetzt.
"Wir brauchen starke Reizmittei, sintemalen die
,sieben Todsünden' und die Ehebruchszenen fran-
zösischer Mache schon stark verbraucht sind. So
ein Nero, eine Messaline mag etwa dieselbe Wir-
kung auf uns hervorbringen, wie der Fiintenschuß
auf Rübezahl. Traf dieser einst auf einen Straßen-
räuber mit einer Flinte und fragt ihn, was er da ha-
be. ,Es ist eine neue Art von Tabakspfeifef - ,Da
möchte ich doch auch einige Züge daraus thun'
begehrt der Berggeist. Der Räuber gab ihm die
neue Pfeife in den Mund und drückte los. Der
Geist nießte heftig, nahm aber weiter keinen Scha-
den und rief nur aus: ,Das ist ein etwas starker Ta-
bakzalu Mit diesen Zeilen aus dem Neuen Wiener
Tagblatt ist 1875 auch die Wirkung einer Wolter
oder eines Sonnenthal deutlich relativiert.
"Nero" in Wilbrandts gleichnamigen Trauerspiel,
mit der Erstaufführung im Burgtheater am 1. 12.
1875, charakterisiert sich nach der Erkenntnis sei-
ner Narrheit als "Ein wildes Thier, ein sinnlos,
blut'ges Gräuel, l Der ,Feind der Menschen' -r-
(Vl2), und davor: "Was hungern, streben? Unser
Tag ist kurz;l Herr sein, und tödten, und den Tag
genießen. l Wagen, was keiner noch gewagt; besit-
zen, l Was keiner noch besessen; jeden Feind I
Und jedes Weib bezwingen}; (ll2)
Wilbrandt beherrschte theatralische Ausdrucks-
mittel, geriet aber spätestens mit diesem "Nerou
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