ästhetischen Kategorien einlassen, so wäre kein
Fortschritt gegenüber den zahlreichen Stimmen der
arbiträren Kritik zu erreichen. die so oft, bis ins
20. Jh., gegen die Architektur der Medicikapelle er-
hoben wurden.
Es muß also die Frage nach dem zentralen Prinzip
gestellt werden, welches das gegenseitige Verhält-
nis der Architektureinheiten untereinander, das
Verhältnis von Architektur und Ornament und -was
in der Medicikapelle besonders bedeutsam ist- das
Verhältnisvon Architektur und Plastik regelt. Dieses
Ordnungsprinzip liegt in eben jener Idee der Säulen-
ordnungen begründet, die mit Brunellesco ihre er-
ste Renaissance erlebt hatte. Brunellesco hat be-
kanntlich nur eine einzige der klassischen Ordnun-
gen, nämlich die korinthische, verwendet. In der
zweiten Hälfte des 15. Jh.s. bis gegen 1500, waren
auch die übrigen kanonischen Säulengeschlechter.
die Dorica, die lonica und die Römische Komposit-
ordnung gebräuchlich geworden. Seit Leonbattista
Albertis Zehn Büchern über die Baukunst, die um
die Mitte des Jahrhunderts entstanden, aber erst
1485 im Druck erschienen waren, hatte man sich um
die Gestalt der Säulengattungen bemüht. wobei der
Ausgangspunkt weniger in den erhaltenen antiken
Resten lag als in der schriftlichen Überlieferung bei
Vitruv. Die Fragen der Kunsttheoretiker betrafen
einmal das lkonographische, d.h. die Zuordnung
bestimmter Säulenordnungen zu bestimmten Bau-
aufgaben, zum andern ging es um die unveränderli-
chen Merkmale, die für die einzelnen Säulenarten
typisch waren. Die Säulenformen hatten nicht nur
ihre spezifischen Maßverhältnisse, ihre typischen
Basen, Kapitelle und Gebälke, sondern auch alles
übrige, Türen, Fenster, Nischen usf., war durch sol-
che architektonischen Gattungsmerkmale be-
stimmt, selbstverständlich auch das architekturge-
bundene Ornament. Im ganzen war diese Sprache
der Säulenarten eine allgemein verständliche, deren
Regeln nicht ohne weiteres verletzt werden durften.
Allerdings gibt es neben diesen kanonischen For-
men eine, die von allen Kodifizierungen frei blieb,
mit der sich die Architekturtheoretiker kaum befaß-
ten, die den Bildhauern dafür aber umso lieber war.
Es handelt sich dabei um eine sehr freie Form der
Kompositordnung. Wie schon der Name "Composi-
ta- sagt, vereinigt sie in sich die Merkmale der
strengen kanonischen Säulengeschlechter, etwa
die Proportionen der lonica mit dem korinthischen
Kapitellakanthus und dem dorischen Echinus usf.
Prinzipiell waren also hier die spezifischen Merk-
male gegeneinander austauschbar. Aber nicht nur
dies, sie konnten auch durch Ornament und Skulp-
tur ersetzt werden, wie sie den klassischen Säulen-
ordnungen überhaupt fremd waren. Die freie Kom-
positordnung des Quattrocento besitzt im höchsten
Grade eine Affinität zum Bildwerk und zu gegen-
ständlich erweiterten Formen der Ornamentik.
Schon 1435, noch zu Lebzeiten Brunellescos, ent-
stand eines der schönsten Beispiele dieser Art in
Florenz: Donatellos Verkündigungstabernakel in
Sta. Croce. Statt aus Voluten und Akanthus werden
die Kapitelle von Maskengruppen gebildet, statt der
Kanneluren finden wir die Pilasterschäfte mit
schuppenartigen Blättern besetzt, und die Basen
sind aus Voluten geformt, die sonst nur als Kapitell-
schmuck Verwendung finden. Solche komposite
Neuformungen finden sich auch im Gebälk, sie be-
stimmen den gesamten Charakter der Ädikula. Diese
ist aber eine Architektur im Sinne der Säulenord-
nungen allein schon deshalb, weil der Bildhauerje-
dem dieser Glieder eine eigene und nur ihm vorbe-
haltene typische skulpturale und ornamentale Form
gegeben hat. Schon dieses frühe Beispiel, dessen
Architektur ja das Flah menwerk für ein Bildwerk ab-
gibt, zeigt in der Urndeutung seiner Glieder die auf-
fallende Affinität, die die komposite Form zum Bild-
werk besitzt. Und so ist es kein Zufall, daß so gut wie
alleKleinarchitekturen desQuattrocento und frühen
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Cinquecento, in erster Linie also Grabmäler und Al-
täre, nicht die strengen kanonischen Säulenord-
nungen Dorisch, lonisch, Korinthisch verwenden.
sondern die Varianten der Kompositordnung.
Auch Michelangelos Grabmalsarchitektur der Me-
dicikapelle gehört dieser freien und undogmati-
schen Möglichkeit an. Das Ornament ist dafür ein
untrügliches Indiz, schon auf den ersten Blick gibt
es sich an den Doppelpilastern als komposit zu er-
kennen (Abb. 3): in den Masken und Hörnern der
Kapitellornamentik oder in den thron- bzw. altarar-
tigen Sockeln in der Attika- Gebilde, für die in kei-
nem der klassischen Ordnungssysteme Platz wäre.
Selbst einzelne Ornamentmotive sind von dem Ge-
danken der kompositen Mischform geprägt. Der
Fries, der sich, begleitet von Perlstab. Zahnschnitt
und Eierstab, unter dem Gesims des Sockelge-
schosses quer über die Front der Grabmäler zieht.
ist ein solches durch und durch komposites Gebilde
(Abb. 3, Abb. 5). Es sind zwei Elemente, aus denen
diese Ornamentform gebildet ist: das Eierstabkyma
und die Maskarons. Was aus dieserVerbindung ent-
steht, ist aber kein Eierstab mehr und auch keine
einfache Aneinanderreihung von Masken, wie man
sie von zahllosen Beispielen des Quattrocento
kennt. Das Ganze ist vielmehr ein Fries von bildge-
genständlichen Motiven, von Masken, die sich mit-
tels der rein ornamentalen Form des Eierstabes zum
Rapport formieren. Das Ergebnis ist ein Gebilde, in
dem diese beiden Elemente zugleich erscheinen
und das eine im anderen präsent ist.
Ins Auge fallend ist ebenso die komposite Konzep-
tion der mit den Türen verbundenen Tabernakelauf-
bauten in den Seitentraveen (Abb. 4). Diese Gestelle
sind komplizierte Verschachtelungen von Nischen,
Teilflächen, Quadern und Rahmenformen, die mit
Nachdruck den Akzent auf die kalte wmechanische-
Verzahnung dieser gestückelten Formen legen. Be-
zeichnend ist überhaupt die Vervielfältigung von
Flahmenformen, die sozusagen immer nur sich
selbst, Bruchstücke ihresgleichen oder leere Flä-
chen rahmen. Diese ineinandergeschachtelten Teile
und Flächen tendieren dazu, in einem gleichsam
rückläufigen Konstruktionsprozeß wieder in ihre
Elemente und Bestandteile auseinanderzutreten.
Die komposite Form ist hier auf ihre ß-Dekomposi-
tion- hin angelegt, ja, sie mußes geradezu sein, weil
diese wSchau-Gehäusel- ohne inneres, tragendes
Gerüst sind und nur von außen, durch die umgrei-
fende Rahmung der Macigno-Glieder zusammen-
gehalten werden.
Komposita Erfindungen, wie das Ornament des
Maskenfrieses oder die Architektur der Portaltaber-
nakel, sind ohnejedes Beispiel und daher auch ohne
jedes Vorbild in der Kunstgeschichte vor Michelan-
gelo. Man wird annehmen, daß dies schon seinen
Zeitgenossen aufgefallen ist und in der Kunstlitera-
tur des 16. Jh.s irgendwie zum Ausdruck kommt.
Diese Erwartung findet sich bestätigt in einem Trak-
tat über die Architektur, den .Giorgio Vasari seinen
Lebensbeschreibungen der berühmtesten Baumei-
ster, Maler und Bildhauer vorausgeschickt hat. Der
Abschnitt, den er darin der Kompositordnung wid-
met. hat stellenweise den Charakter einer Verteidi-
gungsschrift, und er gipfelt in der Feststellung, daß
die Composita nicht nur durch ihr Alter und ihren
Gebrauch in der Antike neben den kanonischen
Ordnungen gerechtfertigt ist, sondern daß gerade
ihre Verwendung in der Gegenwart Dinge hervorge-
bracht habe, die in ihrer Anmut die Antike weit über-
träfen. "Daß dies wahr ist", so schreibt er, "bezeu-
gen die Werke, die Michelangelo Buonarroti in der
Sakristei und in der Bibliothek von San Lorenzo zu
Florenz gemacht hat, wo die Türen, die Tabernakel,
die Basen, die Säulen, die Kapitelle, die Gesimse, die
Konsolen und überhaupt alle anderen Dinge etwas
Neues und von ihm Zusammengefügtes (oder Kom-
poniertes) haben (- wörtlich: del composto da lui),
und nichtsdestoweniger sind sie wunderbar und