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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXIV (1979 / Heft 166 und 167)

ästhetischen Kategorien einlassen, so wäre kein 
Fortschritt gegenüber den zahlreichen Stimmen der 
arbiträren Kritik zu erreichen. die so oft, bis ins 
20. Jh., gegen die Architektur der Medicikapelle er- 
hoben wurden. 
Es muß also die Frage nach dem zentralen Prinzip 
gestellt werden, welches das gegenseitige Verhält- 
nis der Architektureinheiten untereinander, das 
Verhältnis von Architektur und Ornament und -was 
in der Medicikapelle besonders bedeutsam ist- das 
Verhältnisvon Architektur und Plastik regelt. Dieses 
Ordnungsprinzip liegt in eben jener Idee der Säulen- 
ordnungen begründet, die mit Brunellesco ihre er- 
ste Renaissance erlebt hatte. Brunellesco hat be- 
kanntlich nur eine einzige der klassischen Ordnun- 
gen, nämlich die korinthische, verwendet. In der 
zweiten Hälfte des 15. Jh.s. bis gegen 1500, waren 
auch die übrigen kanonischen Säulengeschlechter. 
die Dorica, die lonica und die Römische Komposit- 
ordnung gebräuchlich geworden. Seit Leonbattista 
Albertis Zehn Büchern über die Baukunst, die um 
die Mitte des Jahrhunderts entstanden, aber erst 
1485 im Druck erschienen waren, hatte man sich um 
die Gestalt der Säulengattungen bemüht. wobei der 
Ausgangspunkt weniger in den erhaltenen antiken 
Resten lag als in der schriftlichen Überlieferung bei 
Vitruv. Die Fragen der Kunsttheoretiker betrafen 
einmal das lkonographische, d.h. die Zuordnung 
bestimmter Säulenordnungen zu bestimmten Bau- 
aufgaben, zum andern ging es um die unveränderli- 
chen Merkmale, die für die einzelnen Säulenarten 
typisch waren. Die Säulenformen hatten nicht nur 
ihre spezifischen Maßverhältnisse, ihre typischen 
Basen, Kapitelle und Gebälke, sondern auch alles 
übrige, Türen, Fenster, Nischen usf., war durch sol- 
che architektonischen Gattungsmerkmale be- 
stimmt, selbstverständlich auch das architekturge- 
bundene Ornament. Im ganzen war diese Sprache 
der Säulenarten eine allgemein verständliche, deren 
Regeln nicht ohne weiteres verletzt werden durften. 
Allerdings gibt es neben diesen kanonischen For- 
men eine, die von allen Kodifizierungen frei blieb, 
mit der sich die Architekturtheoretiker kaum befaß- 
ten, die den Bildhauern dafür aber umso lieber war. 
Es handelt sich dabei um eine sehr freie Form der 
Kompositordnung. Wie schon der Name "Composi- 
ta- sagt, vereinigt sie in sich die Merkmale der 
strengen kanonischen Säulengeschlechter, etwa 
die Proportionen der lonica mit dem korinthischen 
Kapitellakanthus und dem dorischen Echinus usf. 
Prinzipiell waren also hier die spezifischen Merk- 
male gegeneinander austauschbar. Aber nicht nur 
dies, sie konnten auch durch Ornament und Skulp- 
tur ersetzt werden, wie sie den klassischen Säulen- 
ordnungen überhaupt fremd waren. Die freie Kom- 
positordnung des Quattrocento besitzt im höchsten 
Grade eine Affinität zum Bildwerk und zu gegen- 
ständlich erweiterten Formen der Ornamentik. 
Schon 1435, noch zu Lebzeiten Brunellescos, ent- 
stand eines der schönsten Beispiele dieser Art in 
Florenz: Donatellos Verkündigungstabernakel in 
Sta. Croce. Statt aus Voluten und Akanthus werden 
die Kapitelle von Maskengruppen gebildet, statt der 
Kanneluren finden wir die Pilasterschäfte mit 
schuppenartigen Blättern besetzt, und die Basen 
sind aus Voluten geformt, die sonst nur als Kapitell- 
schmuck Verwendung finden. Solche komposite 
Neuformungen finden sich auch im Gebälk, sie be- 
stimmen den gesamten Charakter der Ädikula. Diese 
ist aber eine Architektur im Sinne der Säulenord- 
nungen allein schon deshalb, weil der Bildhauerje- 
dem dieser Glieder eine eigene und nur ihm vorbe- 
haltene typische skulpturale und ornamentale Form 
gegeben hat. Schon dieses frühe Beispiel, dessen 
Architektur ja das Flah menwerk für ein Bildwerk ab- 
gibt, zeigt in der Urndeutung seiner Glieder die auf- 
fallende Affinität, die die komposite Form zum Bild- 
werk besitzt. Und so ist es kein Zufall, daß so gut wie 
alleKleinarchitekturen desQuattrocento und frühen 
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Cinquecento, in erster Linie also Grabmäler und Al- 
täre, nicht die strengen kanonischen Säulenord- 
nungen Dorisch, lonisch, Korinthisch verwenden. 
sondern die Varianten der Kompositordnung. 
Auch Michelangelos Grabmalsarchitektur der Me- 
dicikapelle gehört dieser freien und undogmati- 
schen Möglichkeit an. Das Ornament ist dafür ein 
untrügliches Indiz, schon auf den ersten Blick gibt 
es sich an den Doppelpilastern als komposit zu er- 
kennen (Abb. 3): in den Masken und Hörnern der 
Kapitellornamentik oder in den thron- bzw. altarar- 
tigen Sockeln in der Attika- Gebilde, für die in kei- 
nem der klassischen Ordnungssysteme Platz wäre. 
Selbst einzelne Ornamentmotive sind von dem Ge- 
danken der kompositen Mischform geprägt. Der 
Fries, der sich, begleitet von Perlstab. Zahnschnitt 
und Eierstab, unter dem Gesims des Sockelge- 
schosses quer über die Front der Grabmäler zieht. 
ist ein solches durch und durch komposites Gebilde 
(Abb. 3, Abb. 5). Es sind zwei Elemente, aus denen 
diese Ornamentform gebildet ist: das Eierstabkyma 
und die Maskarons. Was aus dieserVerbindung ent- 
steht, ist aber kein Eierstab mehr und auch keine 
einfache Aneinanderreihung von Masken, wie man 
sie von zahllosen Beispielen des Quattrocento 
kennt. Das Ganze ist vielmehr ein Fries von bildge- 
genständlichen Motiven, von Masken, die sich mit- 
tels der rein ornamentalen Form des Eierstabes zum 
Rapport formieren. Das Ergebnis ist ein Gebilde, in 
dem diese beiden Elemente zugleich erscheinen 
und das eine im anderen präsent ist. 
Ins Auge fallend ist ebenso die komposite Konzep- 
tion der mit den Türen verbundenen Tabernakelauf- 
bauten in den Seitentraveen (Abb. 4). Diese Gestelle 
sind komplizierte Verschachtelungen von Nischen, 
Teilflächen, Quadern und Rahmenformen, die mit 
Nachdruck den Akzent auf die kalte wmechanische- 
Verzahnung dieser gestückelten Formen legen. Be- 
zeichnend ist überhaupt die Vervielfältigung von 
Flahmenformen, die sozusagen immer nur sich 
selbst, Bruchstücke ihresgleichen oder leere Flä- 
chen rahmen. Diese ineinandergeschachtelten Teile 
und Flächen tendieren dazu, in einem gleichsam 
rückläufigen Konstruktionsprozeß wieder in ihre 
Elemente und Bestandteile auseinanderzutreten. 
Die komposite Form ist hier auf ihre ß-Dekomposi- 
tion- hin angelegt, ja, sie mußes geradezu sein, weil 
diese wSchau-Gehäusel- ohne inneres, tragendes 
Gerüst sind und nur von außen, durch die umgrei- 
fende Rahmung der Macigno-Glieder zusammen- 
gehalten werden. 
Komposita Erfindungen, wie das Ornament des 
Maskenfrieses oder die Architektur der Portaltaber- 
nakel, sind ohnejedes Beispiel und daher auch ohne 
jedes Vorbild in der Kunstgeschichte vor Michelan- 
gelo. Man wird annehmen, daß dies schon seinen 
Zeitgenossen aufgefallen ist und in der Kunstlitera- 
tur des 16. Jh.s irgendwie zum Ausdruck kommt. 
Diese Erwartung findet sich bestätigt in einem Trak- 
tat über die Architektur, den .Giorgio Vasari seinen 
Lebensbeschreibungen der berühmtesten Baumei- 
ster, Maler und Bildhauer vorausgeschickt hat. Der 
Abschnitt, den er darin der Kompositordnung wid- 
met. hat stellenweise den Charakter einer Verteidi- 
gungsschrift, und er gipfelt in der Feststellung, daß 
die Composita nicht nur durch ihr Alter und ihren 
Gebrauch in der Antike neben den kanonischen 
Ordnungen gerechtfertigt ist, sondern daß gerade 
ihre Verwendung in der Gegenwart Dinge hervorge- 
bracht habe, die in ihrer Anmut die Antike weit über- 
träfen. "Daß dies wahr ist", so schreibt er, "bezeu- 
gen die Werke, die Michelangelo Buonarroti in der 
Sakristei und in der Bibliothek von San Lorenzo zu 
Florenz gemacht hat, wo die Türen, die Tabernakel, 
die Basen, die Säulen, die Kapitelle, die Gesimse, die 
Konsolen und überhaupt alle anderen Dinge etwas 
Neues und von ihm Zusammengefügtes (oder Kom- 
poniertes) haben (- wörtlich: del composto da lui), 
und nichtsdestoweniger sind sie wunderbar und
	        
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