Gehalt des Ornaments besser fassen als dort, wo
ihm ein spezifischer ikonographischer Sinn -zu-
kommt. Das ist der Fall bei den aus Lorbeerblättern
geflochtenen Festons in den Nischen über den Por-
talen und in der Attika der Gräber (Abb. 3, 4). Der
Lorbeer ist ein altes mediceisches Emblem. Um
seine Symbolik. die im übrigen eng verbunden ist
mit dem Selbstverständnis der Renaissance und der
Idee des nrinasci", rankt sich eine weitverzweigte
Ikonographie der mediceischen Prosperitäte. Das
Grünen des Lorbeers meinte das Gedeihen der
hstirps mediceaw; die Lebenskraft, die den abge-
hauenen Strunk mit neuem Laub schmückt, bedeu-
tete die Lebenskraft dieses Geschlechtes. Der medi-
ceische Lorbeer, der ehedem stets als blühender fri-
scher Zweig oder als Baum in der Pflege der Götter
erschien, ist in der Neuen Sakristei zum toten Grab-
schmuck geworden, seine Blätter und Früchte sind
kunstvoll zu Artefakten gebunden. Die dem Lorbeer
und den Medici gemeinsame, sich immer wieder
verjüngende und erneuernde Lebenskraft ist in die-
sem Schmuck erloschen. Das Emblem bezeugt
nicht mehr die Hoffnung auf neue Blüte und aber-
malige Renovation, sondern deren Vergangenheit,
denn mit dem Geschlecht stirbt auch der Sinn des
v-sempew - des lebensgewissen Wahlspruchs, den
der grüne Zweig ausdrückte. Die Hoffnung auf das
irdische, zeitliche vrinasci-r ist tot, aber sie verwan-
delt sich im Patrozinium der Grabkapelle in die
Glaubensgewißheit der verheißenen ßWiederge-
burtw in der Auferstehung. Diesen Erscheinungs-
formen der abgeschlossenen geschichtlichen Zeit
in Architektur und Ornament entspricht in der
Skulptur die Stillegung der täglichen, der profanen
Zeit. Auf einer Entwurfsskizze zu den Grabmälern
hat Michelangelo selbst diesen Gedanken zu Papier
gebracht: "Der Ruhm hält die Epitaphien hinge-
streckt, es geht nicht vonrvärts und nicht zurück,
denn sie (die Medici) sind tot, ihr Tun ist abge-
schlossenU
Der Stillstand der Zeit ist das Thema der Allegorien
derTageszeiten auf den Sarkophagen. Das Inaktive,
Schwere und Lastende, das In-Trauer-Gelähmtsein
und gleichsam Schlafbefangene ihres gesamten
Körperausdrucks ist zu oft beschrieben worden, als
daß es hier wiederholt werden müßte. Michelangelo
hat ein allegorisches Gespräch zwischen dem Tag
und der Nacht notiert, in dem es heißt: t-Der Tag und
die Nacht sprechen und sagen: wir haben mit unse-
rem schnellen Lauf den Herzog Giuliano zum Tode
geführt; es ist wohl recht. daß er dafür Rache nehme,
wie er es tut, und die Rache ist diese: dawir ihn getö-
tet haben, so hat nun er mit seinem Tode uns das
Licht genommen und hat mit seinen geschlossenen
Augen die unseren verschlossen, so daß sie nicht
mehr über der Erde leuchten. Was hätte er also mit
uns gemacht, wenn er am Leben geblieben wäreh"
Tag und Nacht bedenken also ihr tragisches Ge-
schick als ßpersönlicheß Zeit des Mediceers, mit
dessen Leben und Tod, den siejaherbeiführen muß-
ten, sie selbst unausweichlich und unmittelbar ver-
bunden sind. In der Verknüpfung ihres verhängnis-
vollen Laufes mit der Sterblichkeit des Herzogs ist
die Zeit selbst wandelbar und sterblich geworden.
im Tod des Medici führt sich die Zeit ihrem eigenen
Ende entgegen. Ihr Ende ist Stillstand und im Still-
stand wird sie zum Bild. ln den Bildwerken zeigt sich
die gebrochene Macht der Zeit, weil sie in der kör-
perhaften Fixierung von der Zeitlichkeit ihres eige-
nen finalen Prinzips ereilt wird. Der Bildzustand, in
dem die Zeit sich ihrer selbst und - wie das von Mi-
chelangelo gedichtete Gespräch zeigt - auch ihres
Tuns bewußt wird, bedeutet für sie Tatenlosigkeit,
Schlaf- und Traumbefangen heit. In der Allegorie tritt
Kunst die Nachfolge der Zeit an. Nur auf das Wesen
der Zeit bezogen, löst sich das Paradox, daß es im
Bewußtwerden ein Verlöschen gibt. daß in der Re-
flexion Macht gebrochen wird und die Bildwerdung
Negierung bedeuten kann.
In dem zitierten Gespräch von Tag und Nacht heißt
es, daß ihnen das Licht genommen sei, mit dem sie
über die Erde leuchten. Tatsächlich hat Michelan-
gelo den Raum so beleuchtet, daß schon sein Licht
jenes Erlebnis vorn Stillstand der Zeit zu vermitteln
imstande ist. Zunächst einmal dient es, wie ich mei-
ne, zur Identifizierung der Tageszeiten allgemein:
Das Gesichtdes "Giornor- ist voll beleuchtet, dasder
ßNotte-r ganz verschattet und die Gesichter von
eCrepusculor- und "Aurorau sind je zur Hälfte be-
leuchtet und verschattet. Es ist aber nur dann mög-
lich, diese Beleuchtung durch das natürliche Tages-
licht konstant zu halten, wenn das Licht steil aus der
Höhe herabfällt und niemals die direkte Sonnenein-
strahlung dieses Beleuchtungsgleichgewicht stört.
Die Süd- und Ostseite der Sakristei schließt sich
dem Baukörper der Kirche San Lorenzo an. die Fen-
ster im zweiten Geschoß sind daher auf diesen Sei-
ten blind. Die Folge davon ist, daß der Wechsel der
Tageszeiten im Inneren der Kapelle kaum wahrge-
nommen wird. Mit dem Licht steht die Zeit still.
Durch den allegorischen Tod der Tageszeiten und
durch die Ausschaltung ihres Lichtes ist der profa-
ne, mundane Zeitbegriff entwertet und ungültig ge-
worden. Er wird ersetzt durch einen liturgischen
Rhythmus und damit durch einen sakralen Zeitbe-
griff. Clemens VII. bestimmte in einer Bulle im Jahre
1532 den außerordentlich reichen Totendienst, der
darin bestand, daß vier Kapläne (je zwei abwech-
selnd) Tag und Nacht und nur durch die Meßzeiten
unterbrochen, Gebete für die Toten und Lebenden
des Hauses Medici sprechen und jeden Morgen
mindestens vier Messen für die Verstorbenen gele-
sen werden sollten. Mehrere Quellen geben Zeugnis
von der Einhaltung dieser Bestimmungen, die erst
1629 und 1807 abgeändert bzw. aufgehoben wur-
den. 1574 berichtet ein französischer Reisender. der
die Kapelle besucht: "Bemerkenswert ist, daß in die-
ser Kapelle stets und zu jeder Stunde, des Tages wie
der Nacht, zwei Priesteraufden Knien zu Gott fürdie
in den Grabmälern Beigesetzten beten. Alle zwei
Stunden werden sie abgelöst. Die einzige Unterbre-
chung sind die Hauptmesse und die Vesper, wo alle
zusammen betens."
Diese Iiturgisch-sakrale Neuordnung der Zeit weist
freilich über den Begriff Zeit hinaus, sie ist gerichtet
aufjene eschatologische Erfüllung der Zeit, die in
der Auferstehung Christi bereits vonrveggenommen
ist und mit diesem Namen im Patrozinium der Grab-
kapelle erscheint.
Wer als Besucher einmal das Glück hat, die Kapelle
ohne viele Menschen und ohne die Erklärung der
Fremdenführer vorzufinden, wird eine Raumerfah-
rung machen, wie er sie in keiner anderen sakralen
oder profanen, weder in bewohnbarer noch unbe-
wohnbarer Architektur gewinnen kann. Sein erster
Eindruck wird bewußt oder unbewußt davon be-
stimmt, daß er sich, obwohl er inmitten eines Rau-
mes steht, nur Außenwänden gegenübersieht. Es
gibt nirgendwo sonst Bauten. welche die Außenfor-
rnen der Fenster ins Innere übertragen. Man steht
zwischen Außenfassaden und doch in einem Zen-
tralraum. Dieser Raum aber ist außerordentlich steil
-ein Eindruck, derdurch die tatsächliche Höhe ent-
steht und durch die sich verjüngenden Fenster des
Pendentivgeschosses noch verstärkt wird. In dieser
Überhöhung ist der Raum als Ganzes schwer faßbar,
erverliert seine prägnante Gestalt. Deshalb gewinnt
die Raumgrenze den Vorrang. Dies trifft vor allem
dort zu, wo sie in Flächen und Reliefschichten diffe-
renziert ist, also im Geschoß der Grabmäler, die ja
Fassadenarchitekturen sind. Der überkuppelte Zen-
tralraum kehrt sich um in einen "Fassadenraums.
dessen Wandstruktur eine gleichsam innenräumli-
che Situation von Außenarchitekturen erzeugt. Sein
elnnenr- ist ein wZwischem dem "Außen". Die Her-
einnahme des Fassadenhaften, nach außen Gewen-
deten, erzeugt ein sich im Innersten Verschließen-
des; mit einem Wort, es ist ein paradoxer, hermeti-