Wilhelm Mrazek
Das österreichische Kunst-
handwerk und der Beitrag
des Osterreichischen
Museums für angewandte
Kunst zur 9. internationalen
Konferenz des Worid Crafts
Council in Wien 1980
Die Stadt Wien ist wie Paris oder London ein ural-
tes Kulturzentrum, wo man heute noch auf Schritt
und Tritt den künstlerischen und kunsthandwerkli-
chen Zeugnissen der Vergangenheit begegnet. Zu
allen Zeiten war das politische, wirtschaftliche
und kulturelle Leben der Stadt durch die günstige
geopolitische Lage in der Mitte des Kontinents be-
stimmt. Als Metropole der habsburgischen Donau-
monarchie, die ein Vieivöikerstaat mit rund 40 Mil-
iionen Menschen gewesen ist, war die Stadt das
geistige und politische Zentrum und strahlte eine
unwiderstehliche Faszination auf alle künstleri-
schen und kunsthandwerklichen Begabungen aus
den zwölf verschiedenen Nationen aus, die in der
Monarchie vereinigt waren. Das Völkergemisch
bewirkte in diesem Schnittpunkt der west-osteuro-
päischen Kultur nicht nur impuisierendes Leben,
sondern brachte Menschen von improvisatori-
scher Begabung, von großer Leichtigkeit des
Schaffens und von besonderen Talenten hervor.
Und so entstand in den vergangenen Jahrhunder-
ten in diesem Mittelpunkt ein volkstümliches
Kunsthandwerk, das, von den Herrschern aus dem
Hause Habsburg, vom Adel, von der Kirche und
vom reich gewordenen Bürgertum gefördert, bis
ca. 1820 eine einmalige Vielfalt von künstlerisch
gestalteten Gebrauchsgegenständen hervor-
brachte. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde
die traditionelle Qualität dieser Erzeugnisse unter
dem Einfluß einer forcierten Industrialisierung in
Frage gestellt. Eine Reformierung und Erneuerung
erschien damals allen Einsichtigen geboten -
und dies nicht nur in Österreich, sondern auch in
allen europäischen Staaten. Diese Reform erfolg-
te zuerst in Österreich im Anschluß an das im Jah-
re 1852 gegründete Victoria and Albert-Museum in
London mit der Gründung des Österreichischen
Museums für Kunst und Industrie und seiner
Schule im Jahre 1864.
Die von diesem Institut ausgehenden museal-wis-
senschaftlichen Reformbestrebungen waren in
den 70er Jahren zu einer europäischen Reformbe-
wegung angewachsen, die uns, von heute aus ge-
sehen, mit größtem Respekt vor dieser "Gründer-
generationu erfüllen muß. Sie reichte in ihrer er-
sten Phase bis in die neunziger Jahre - und er-
fuhr erst zu Beginn ihrer zweiten Phase, in dem
letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, eine herbe
Kritik von der Sohnesgeneration der Gründer. Die-
' se strebte nach neuen Zielen, das heißt, wollte
das ursprünglich von der Gründergeneration der
Väter angestrebte Ziel einer "Stilwerdungr- endlich
verwirklichen. Diese Jugend von 1900 beurteilte
natürlicherweise die Leistungen ihrer Väter kri-
tisch und ungerecht, aber das gehört ja zum We-
sen eines Generationskonfliktes. Aus der zeitli-
chen Distanz jedoch können wir feststellen, daß
diese museai-wissenschaftliche Heformbewe-
gung eine wSchuistube-i für alle kunstindustriellen
Probleme gewesen ist, die dann um 1900zur Werk-
statt des künstlerisch schaffenden Handwerkers
und Gewerbetreibenden umgewandelt werden
konnte. Die 35jährige bewußt geplante Erziehungs-
arbeit und Reformtätigkeit des Wiener Museums
für Kunst und Industrie und seiner Schule hatten
für diesen Umwandiungsprozeß gründliche Vorar-
beit geleistet. Auf breitester Basis hatten sie tech-
nisch und ästhetisch geschulte Kunsthandwerker
hervorgebracht, die sich über dem Kopieren und
imitieren von Vorbildern zunächst ihrer eigenen
Bedeutung bewußt geworden waren. Sie hatten
mit der Wiederaufnahme alter Kunsttechniken ein
steril gewordenes Kunsthandwerk bereichert. Sie
hatten durch die wissensmäßige Rezeption der
Vergangenheit in Form von wissenschaftlichen
Werken die Bedeutung der Kunstindustrie und des
Kunsthandwerkes für den einzelnen und für die
Gesamtheit, für die Volkswirtschaft und den na-
tionalen Wohlstand in weiteste Kreise der Bevöl-
kerung getragen und eine alle Schichten umfas-
sende kunstgewerbliche Bewegung entfacht. Sie
hatten schließlich durch die Einbeziehung der
orientalischen und ostasiatischen Kunst den en-
gen kontinentalen Horizont erweitert und den Sinn
für Qualität geschärft. Mit Hilfe der museaien
Kunstwissenschaft wurde das angestrebte Ziel
um 1900 erreicht: die Geburt eines neuen Stiles
aus dem Schoße der Kunst und von unten, von den
Bedürfnissen des Alltags, von den Gebrauchsfor-
men und vom Kunsthandwerk her. Daß nach der
Vorbereitungszeit durch die Museumsmänner wie-
der Künstler, Maler und Architekten wie Otto Wag-
ner, Josef Hoffmann, Koio Moser, Gustav Klimt
und viele andere bei der neuen Stilwerdung die
treibenden Kräfte waren, ließ für die Zukunft das
Allerbeste hoffen.
Der entscheidene Schritt zu einem Stil von Welt-
geitung vollzog sich für diese Erneuerungsbewe-
gung aber erst mit der Gründung der ßWiener
Werkstätteti im Jahre 1903. Josef Hoffmanns und
Kolo Mosers Ideen - in der Stammtischrunde des
Kaffeehauses geäußert - von einer Werkstätten-
gemeinschaft zwischen Künstlern und Handwer-
kern, die nur jene "Quaiitätsarbeitit erzeugen soll-
te, zu welcher die Massenproduktion der Industrie
nicht mehr in der Lage war, veranlaßte Fritz Warn-
dorfer, der mehr begeisterter Kunstfreund als ver-
sierter Geschäftsmann war, das Projekt zu finan-
zieren. Und so wurde nach englischem Vorbild die
Wiener Werkstätte als ein Unternehmen gegrün-
det, iidas alle künstlerischen und qualitativen Be-
strebungen auf den Gebieten des modernen
Kunsthandwerks durch umfassende Tätigkeit för-
dert und pflegt-i. In den ersten Jahren nur verlacht,
konnte es sich dennoch behaupten. Und als Fritz
Wärndorfer 1914 nach Amerika ging, fanden sich
mit Otto und Mäda Primavesi sowie Kuno Groh-
mann jene Geldgeber, die das Unternehmen bis zu
seiner Liquidation im Jahre 1932 in der großzügig-
sten Weise finanziell immer wieder über Wasser
hielten. Josef Hoffmann und Kolo Moser, die die
künstlerische Leitung innehatten, gelang es, eine
Schar ausgezeichneter Handwerker und schöpfe-
rischer Künstler, zumeist aus ihren Klassen der
Kunstgewerbeschule des Wiener Museums für
Kunst und Industrie, für ihr Unternehmen zu ge-
winnen. Die alte Wiener Handwerkskuitur und die
moderne künstlerische Regsamkeit ergaben eine
Synthese, die nicht nur der Wiener Moderne Welt-
geltung verschaffte, sondern die sich von Beginn
an der modischen Ausartung des Secessionssti-
les und seinendie klare Form überwuchernden
Schlingornamentik enthielt und die Wandlung zu
einem Kunstgewerbestil vollzog, der den originell-
sten Beitrag zur Erneuerung des österreichischen
Kunsthandwerkes in unserem Jahrhundert dar-
stellt.
Zu den bedeutendsten Künstierpersöniichkeiten
der Wiener Werkstätte gehörten neben Josef Hoff-
mann (1870 - 1950) der "vielgestaltige vielgestal-
tende-i Kolo Moser (1868 - 1918), der wohl am mei-
sten dem Secessionsstii verhaftet blieb, und der
weitaus jüngere Dagobert Peche (1887 - 1923), der
ein genialer und phantasievoller Entwerfer mit na-
hezu surrealistischen Tendenzen war. Er kam 1913
in die Wiener Werkstätte und drückte allen Er-
zeugnissen, die in den zehn Jahren bis zu seinem
frühen Tode im Jahre 1923 die Werkstatt verlie-
ßen, das unverkennbare Siegel seiner künstleri-
schen Eigenart auf, so daß man neben einer
Hoffmann-Moser-Periode (1903-1914) zu Recht
von einer Peche-Periode (1914-1923) sprechen
kann.
im Umkreis der Wiener Werkstätte fanden auch
zahlreiche junge Künstler die Grundlage und die
Schulung für ihre eigene Entwicklung. So wurde
Ludwig Forstners irWiener Mosaikwerkstätteii mit
der Ausführung der Entwürfe Gustav Kiimts für
die Mosaiken im Speisesaal des Palais Stoclet be-
traut und eine enge Zusammenarbeit mit Powoiny
und Löfflers iiwiener Keramik- hergestellt. Carl
Otto Czeschka betätigte sich in Silber und auf
dem Textiigebiet, Valiy Wieselthier, Gudrun Bau-
dlsch, Mathilde Fiögl und viele andere schufen Ke-
ramiken, Kitti Rix Textiientwürfe, Josef E.
Wimmer-Wisgriii widmete sich der Mode, Maria Li-
karz schnitzte Elfenbein und malte Tapeten, Otto
Lendecke schuf Möbel, Elfenbein und Textilien.
Franz von Zülow malte dekorative Entwürfe und
Oskar Kokoschka sowie Egon Schiele schufen
Postkarten und Illustrationen.
Das Gesamtkunstwerk der Wiener Werkstätte je-
doch, das auch zugleich Josef Hoffmanns künst-
lerisches Hauptwerk gewesen ist, war die Errich-
tung und die gesamte Innenausstattung des Pa-
lais Stoclet in Brüssel (1905-1911). Hier kulmi-
nierte die Idee von der "Integration aller Künste"
zu einem Gesamtkunstwerk, die die Wiener Werk-
stätte vom Anbeginn auszeichnete, in einmaliger
Weise. Die Wiener Werkstätte hatte nicht nur die
reinsten und begiückendsten Lösungen seit der
Wiedergeburt des österreichischen. Kunsthand-
werkes um 1900 hervorgebracht, sondern bis zum
Ende der zwanziger Jahre der österreichischen
Werkkultur eine einmalige Blütezeit beschert. Die-
se schöpferische Tätigkeit wirkte sich auch nach
Liquidierung der Wiener Werkstätte im Jahre 1932
weiterhin aus und kam erst mit dem Beginn des
Zweiten Weltkrieges zum völligen Stillstand.
Zum Ende des Zweiten Weltkrieges, noch in den
letzten Tagen der kriegerischen Auseinanderset-
zungen, wurde Wien von zahlreichen Bomben ge-
troffen und vieles Alte zerstört. in den folgenden
Zeiten ging es in dieser von den Alliierten In vier
Besatzungszonen aufgeteilten Stadt in erster Li-
a: