Christian Witt-Dörring
Einrichtungsvorschläge und
Mustermöbel für Arbeiter-
und Kleinbeamten-
wohnungen in Wien
24
Die Wohnungssituation des Arbeiterstandes war
in Wien von jeher schlecht gewesen. im Zuge der
Industrialisierung verschlechterte sich diese Si-
tuation jedoch ab 1870 zusehends. Dem verstärk-
ten Zustrom von Arbeitskräften aus den österrei-
chischen Provinzen stand eln viel zu geringes An-
gebot an billigen und gesunden Wohnungen ge-
genüber. Für seine Wohnung mußte ein Arbeiter
bis zu einem Viertel seines Lohnes aufwenden.
Dadurch war er gezwungen, Untermieter und Bett-
geher aufzunehmen, die mithalfen, den Zins zu be-
streiten. So waren 1890 in Ottakring 26W sämtli-
cher Zimmer-Küche-Wohnungen mit sechs bis
zehn Personen beiegtl Dementsprechend waren
die hygienischen Zustände In moralischer sowie
sanitärer Hinsicht. Adolf Loos prangerte diese Zu-
stände im Zusammenhang mit falscher bürgerli-
cher Moral an. in einem Nachtasyl, dem soge-
nannten Maison Feuerstein, hatte ein 13jähriges
Mädchen ihre ansteckende Krankheit auf andere
Kinder übertragen. Daraufhin wurden in der Pres-
se Stimmen laut, die forderten: "Das Nachtasyl ist
eine Lasterstätte - Die Gefahren der Straße -
Kinder gehören in die Familien? Wie diese Familie
aussah, wird von Loos in aller Realität beschrie-
ben: "Ein Zimmer. Vater, Mutter und so und so vie-
le Kinder. in dem Zimmer wird gekocht, gegessen
und geschlafen. Abends und im Laufe der Nacht
kommen die Schlafburschen und Schlafmadel. Es
gibt Leute, die sich darüber herumstreiten, ob und
wann die Kinder über die Funktion der Fortpflan-
zung aufgeklärt werden solien. Für das Proletariat
sind solche ,Fragen' Blech. Mit den Funktionen
der Fortpflanzung werden die Kinder genau so
bald vertraut gemacht wie mit den Funktionen der
Verdauung. Wohl besteht ein kleiner Unterschied.
Während nämlich Vater und Mutter, Schiafbur-
schen und Schlafmädel doch das Gefühl haben,
die letzteren Funktionen den Augen der Kinder zu
entziehen, fällt diese Schamhaftigkeit bei den er-
steren Funktionen vollständig weg. Nicht wie im
Maison Feuerstein liegen in einem Bette vier Kin-
der, sondern noch ein Schiafbursche und ein
Schiafmädel dazu... Es gibt keine Gefahren der
Straße. Die steht unter dem Schutze der Öffent-
lichkeit. Es gibt nur eine Gefahr der Familien: Von
der gleichen Deutlichkeit und Trostlosigkeit ist ei-
ne Schilderung des Nationaiökonomen Philippo-
vich, die er im Ftahmen einer Untersuchung über
die Wiener Wohnverhäitnisse 1894 machte: nMan
kann Wohnung für Wohnung abschreiten, es fehlt
alles, was wir als Grundlage gesunden bürgerli-
chen Lebens zu sehen gewohnt sind. Die Woh-
nung ist nur eine Schutzdecke vor den Unbiiden
der Witterung, ein Nachtiager, das bei der Enge, in
der sich die Menschen drängen, bei dem Mangel
an Fiuhe, Luft und Reinlichkeit nie dem erschöpf-
ten Körper zur Ftuhestätte werden kann. Diese
Wohnungen bilden keine Behaglichkeit und keine
Erquickung, sie haben keinen Reiz für den von der
Arbeit Abgemühten. Wer in sie hinabgesunken
oder hineingeboren wurde, muß körperlich und
geistig verkümmern oder verwelken oder verwil-
derma
Trotz eines im Jahre 1892 erlassenen Arbeiterwoh-
nungsgesetzes, weiches 1902 reformiert werden
mußte, wurden von staatlicher Seite auf dem Ge-
biet der gemeinnützigen Wohnungsproduktion für
Arbeiter keine nennenswerten Fortschritte erzielt.
Außer den von Arbeitgeberseite errichteten Unter-
künften für ihre Arbeiter und der 1896 in Wien fer-
tiggestellten Musterkolonie der Kaiser-Franz-Jo-
seph L-Jubiläums-Stiftung für Volkswohnungen
und Wohlfahrtseinrichtungen sowie den Arbeiter-