b1 Für den Kunstsammler
Christian Witt-Dörring
Ein Schreibtisch von
Giuseppe Maggiolini
im Zuge von Nachforschungen über die Möbelkunst am
Wiener Hof zur Zeit Maria Theresias wurde ich auf einen
im Wiener Bundesmobliiendepot ausgestellten Schreib-
tisch aufmerksam. Seine mit aufwendiger Marketerie
überzogene Oberfläche sowie der kompliziert gebauchte
und geschwungene Mbbelkörper und die hervorragende
handwerkliche Verarbeitung des Möbels bilden im Fiah-
men des erhaltenen Wiener Hofmobiliars eine einzigarti-
ge Erscheinung.
Der Schreibtlschkorpus sowie die Laden sind aus NuB-
baumholz: Die farbliche Wirkung der Oberfläche ist vor al-
lem auf einen stark kontrastierenden Heil-Dunkel-Effekt
ausgerichtet. Erreicht wird dieser durch einen Fond aus
Paiisanderholz und den aus Buchsbaumholz und Elfen-
bein verfertigten Streublumen und Ornamentbandern. Die
Mitte der Tischplatte sowie der beiden Seitenwände und
der einen Langswand bilden je eine ovale Chinoiserie aus
verschiedenfarbigen Hölzern. Ungewöhnlich sind die Kon-
turen des Schreibtisches, die eher an eine Kommode erin-
nern. Bei Betrachtung von der dem Schreiber gegenüber-
liegenden Langsseite des rundansichtigen Möbels ent-
steht daher kaum der Eindruck eines Schreibtisches. Die-
ses merkwürdige Mobelvolumen ist bedingt durch eine in
der Mitte der Sitzseite, unterhalb der mittleren Hauptlade
auf Kniehöhe eingebaute Lade, die aber nur die halbe
Tischtiefe einnimmt. Die Sltzseite selbst, die wie das ge-
samte Möbel mit einem tapetenartigen Dekor überzogen
ist, läßt nur schwer das Innenleben des Schreibtisches er-
ahnen. Wären nicht Schlüssellocher und Handhaben, so
könnte man an der Existenz von Laden oder der Möglich-
keit, in den Möbelkörper einzudringen, zweifeln. Es ist ei-
ne Art Blendfassade, die den einheitlichen Dekor und die
geschlossene Wirkung des Ganzen erhalten soll. Dahin-
ter verbirgt sich ein System von Laden, Gehelmfächern
und ausschwenkbaren beziehungsweise ausziehbaren
Platten. in der Mitte der vorderen Tischplsttenbordüre
läßt sich ein mit Marketerie überzogenes kleines Brett
herausziehen, daß schräg gestellt und nach links und
rechts geschwenkt werden kann (Abb. 1, 12). Gegenstand
der Marketerie ist eine abstrahierte Darstellung der Stadt
Mailand, die durch das Castell Sforzesco, den Dom sowie
das Wappenschild der Stadt versinnbildlicht wird. Die am
Castell aufgepflanzten Fahnen mit dem österreichischen
Doppeladier repräsentieren die habsburgische Herrschaft
im lombardischen Königreich. Unterhalb dieses Pultes
kann ein weiteres, mehr als doppelt so großes Brett an
zwei vergoldeten Bronzehandhaben herausgezogen wer-
den (Abb. 13). Die Oberfläche ist wiederum mit Marketerie
überzogen und symbolisiert die freien Künste. An beiden
Seiten können nun abermals aus der Tischzarge zwei klei-
ne kreisförmige Brettchen herausgedreht werden. Sie
dienten als Standflächen für Kerzenleuchter, die die bei-
den Ausziehflächen beleuchten sollten. Fünf sichtbare
Laden gibt es an der vorderen Langsseite; eine in der Mit-
te und je zwei übereinander an den Seiten. Der kompliziert
geschwungene Möbelkorpus und der Oberfiächendekor
haben ungewöhnlichen Ladenkorper zur Folge, die einen
trapezförmigen Querschnitt aufweisen. Der im Möbelkor-
pus hinter den beiden oberen seitlichen Ladenfronten
(Abb. 16) frei bleibende Zwlckelraum ist mit je einer lan-
gen, schmaien Geheimlade ausgefüllt und optimal ge-
nützt. Sie sind nur dann zugänglich, wenn die mittlere und
die seitlichen Laden gleichzeitig geöffnet sind, dajeweiis
ein Teil ihrer dekorierten Ladenfronten das Geheimfach
teilweise verdecken. Das heißt, daß beim Einschieben ei-
ner der beiden Laden automatisch die Geheimlade mitge-
nommen wird. Ermöglicht wird dieses System durch die
raffinierte Zeichnung der Ladenfront und eine bewußt
überlegte Ornamentführung. An Imagination gleichwertig
ist je ein mit den beiden unteren seitlichen Laden in Zu-
sammenhang stehendes Geheimfach (Abb. 14). Zwischen
den beiden Laden erscheint beim Öffnen der unteren La-
de ein Holzsteg mit eingelassenem Metallblättchen für
das Einrasten der Sperrvorrichtung. Die Dicke dieses
Hoizsteges ist zugleich die Hohe und Vorderfront des Ge-
heimfaches, das zweifach gesichert scheint, einmal
durch die berechtigte Annahme, daß der Holzsteg inte-
grierender Bestandteil der starren Möbeikonstruktion ist,
und zum zweiten durch die vorgeblendete Ladenfront. So
verhilft auch hier die über den eigentlichen Ladenkörper
hinausragende und vorgeblendete Ladenfront zum Spiel
mit dem Verborgenen.
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