Ursula Mayerhofer
Die Physiognomik im
Spiegel der Kunst
Für Günther Heinz
n... Jeder MENSCH treibt untlewußt Phy-
SiOgrlDfTllK. Schon das Kind sieht sich
diejenigen, welche Ihm naherl, darauf-
hin an, wessen es sich von ihnen zu ver-
sehen hat. Täglich mustern Menschen
die Gesichter der ihnen Begegnerlderl
und suchen in den Mienen derer, mit
welchen sie in Hemmung kommen, zu
lesen, auch wenn SIE aus vielfältiger Er-
fahrung wissen, wie trügerisch dieses
Geschäft Seim Richard Fdrsteß
1 Albrecht Dürer, Proportionsstudien. Zeichnung
2 Albrecht Dürer, Physiognomische Studie in vier Pha-
sen. Zeichnung
Anmerkungen 1- 6
l Richard Förster, Die Physiognomik der Griechen, Kiel 1884. p. s.
1 ders. a.a.0., p. 11. _
1 Leonardo de Vinci, Traktat von der Malerei. Uberseizung von
Heinrich Ludwig, Jena 1909, 401. Kapitel,
ß ders. a.a.o.. 375. Kapitel
I Donald osner, Annibale Carracci a sruay m tne Reform of Ita-
llen Painting arround 1590, 197i.
' Kunsi- und Wunderkammer Ambras, Inv. Nr. GG B329.
Wird hier im vorangestellen Zitat der Ursprung der
Physiognomik erklärt, so soll im folgenden die
Problematik und die anzuzweifelnde Lehre der
Physiognomik nur kurz mit einem weiteren Zitat
aufgezeigt werden:
wWährend Euripides noch davor warnt, sich aus
dem Anblick zu Abneigung oder gar Haß verleiten
zu lassen, herrscht in den Gesprächen, welche S0-
krates bei Xenophon mit Künstlern führt, volle
Übereinstimmung darüber, daB sowohl Seelengrö-
Be und Edelmut als auch niedrige und unedle Ge-
sinnung, sowohl Besonnenheit und Klugheit als
auch Übermut und Unverstand durch das Gesicht
und die Haltung des Menschen hindurchschei-
nenß
Die Physiognomik wird am besten mit dem Aus-
druck nGestaitenkundeu erklärt, wobei vornehm-
lich den Gesichtszügen besondere Aufmerksam-
keit geschenkt wird. Der Physiognomik unterge-
ordnet ist die Pathognomik, die Kenntnis der Deu-
tung des momentanen und damit veränderlich-ver-
gänglichen Gesichtsausdruckes.
Es stellt sich in der Skulptur, besonders aber in
der Malerei die Frage nach der Bewerksteliigung
des Sichtbarmachens der Gefühle.
in der Antike wurden dem Gesichtsausdruck und
dem Affekt kaum Wert beigemessen, die ruhige,
ausgeglichene Form dominiert. Auch das hohe
Mittelalter bringt hier keine wesentliche Ände-
rung. Es wird aber eine Symbolik der Handgestik
eingesetzt, die - stellvertretend für die Aussage
des Bildes - Bedeutung hat. Die Gotik versucht
durch die Darstellung der Affekte den Figuren ei-
ne Veriebendigung zukommen zu lassen. Wenn
man an die Gesichtszüge der Verdammten am
Tympanon des Magdeburger Domes denkt, so ist
eine naturnahe Form noch nicht gefunden wor-
den, wenngleich auch intendiert. Eine gewisse
Fratzenhaftigkeit ist nicht zu leugnen - was aber
nicht wartend gemeint sein soll.
Noch die Renaissance fördert eine übersteigerte
Darstellung des Affekts. So empfiehlt Leonardo
da Vinci das Fiaufen der Haare und Zerreißen des
Gewandes - etwa - für Historienbilderß "Mache
die Figur in solcher Gebarde, daß diese zur Genü-
ge zeigen, was die Figur im Sinne hat. Wo nicht,
so ist deine Kunst nicht lobenswertld
Albrecht Dürer zeigt in den Porträtstudien und vor
allem in den Arbeiten, die sich mit der Propor-
tionslehre beschäftigen, auch skurrile Köpfe, die
einsetzendes physiognomisches Interesse bekun-
den, andererseits schon das keimende Wohlgefal-
len am Außergewöhnlichen und Monströsen er-
kennen lassens (Abb. 1 und 2). Am Hof Rudolfs ll.
wird durch die Porträts des Haarmenschen und
seiner Familie diese Tendenz offenkundigF Die
Problematik, den Charakter der darzustelienden
Person im Abbild deutlich werden zu lassen, stellt
sich naturgemäß vor allem in der Porträtkunst.
Hier gibt es vorerst - etwa bei den Stifterbiidnis-
sen in der Gotik - den Versuch, ein charakteristi-
sches Herrscherbildnis zu liefern, das eine nach-
trägliche Identifizierung ermöglicht. Daher wer-
den besonders charakteristische Formen des Ge-
sichts wie auch der Haartracht nicht unwesentlich
dazu beitragen, den Stifter erkennbar zu machen.
Daneben gibt es den Versuch der ldealisierung
des Porträtierten - nicht nur hinsichtlich der Äs-
thetik. ist dem Porträt eine Verdeutlichung des
Charakters hinzuzufügen und in ihm herauszuar-
beiten oder ist der Darzusteilende völlig zu ideali-
sieren, wie er zum Beispiel aufgrund seiner Her-
kunft und vor allem Stellung in der Hierarchie sein
sollte? Zwischen diesen beiden Extremen oszil-
liert die Porträtkunst besonders seit der Spatre-
naissanoe. Waren oft Attribute eine Möglichkeit,
die Geisteshaltung des Dargestellten aufzuzei-
gen, so wird nun die Forderung gestellt, den inne-
ren Charakter optisch sichtbar zu machen, zu ver-
deutlichen.
an