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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXVI (1981 / Heft 174 und 175)

Ursula Mayerhofer 
Die Physiognomik im 
Spiegel der Kunst 
Für Günther Heinz 
n... Jeder MENSCH treibt untlewußt Phy- 
SiOgrlDfTllK. Schon das Kind sieht sich 
diejenigen, welche Ihm naherl, darauf- 
hin an, wessen es sich von ihnen zu ver- 
sehen hat. Täglich mustern Menschen 
die Gesichter der ihnen Begegnerlderl 
und suchen in den Mienen derer, mit 
welchen sie in Hemmung kommen, zu 
lesen, auch wenn SIE aus vielfältiger Er- 
fahrung wissen, wie trügerisch dieses 
Geschäft Seim Richard Fdrsteß 
 
1 Albrecht Dürer, Proportionsstudien. Zeichnung 
2 Albrecht Dürer, Physiognomische Studie in vier Pha- 
sen. Zeichnung 
Anmerkungen 1- 6 
l Richard Förster, Die Physiognomik der Griechen, Kiel 1884. p. s. 
1 ders. a.a.0., p. 11. _ 
1 Leonardo de Vinci, Traktat von der Malerei. Uberseizung von 
Heinrich Ludwig, Jena 1909, 401. Kapitel, 
ß ders. a.a.o.. 375. Kapitel 
I Donald osner, Annibale Carracci a sruay m tne Reform of Ita- 
llen Painting arround 1590, 197i. 
' Kunsi- und Wunderkammer Ambras, Inv. Nr. GG B329. 
Wird hier im vorangestellen Zitat der Ursprung der 
Physiognomik erklärt, so soll im folgenden die 
Problematik und die anzuzweifelnde Lehre der 
Physiognomik nur kurz mit einem weiteren Zitat 
aufgezeigt werden: 
wWährend Euripides noch davor warnt, sich aus 
dem Anblick zu Abneigung oder gar Haß verleiten 
zu lassen, herrscht in den Gesprächen, welche S0- 
krates bei Xenophon mit Künstlern führt, volle 
Übereinstimmung darüber, daB sowohl Seelengrö- 
Be und Edelmut als auch niedrige und unedle Ge- 
sinnung, sowohl Besonnenheit und Klugheit als 
auch Übermut und Unverstand durch das Gesicht 
und die Haltung des Menschen hindurchschei- 
nenß 
Die Physiognomik wird am besten mit dem Aus- 
druck nGestaitenkundeu erklärt, wobei vornehm- 
lich den Gesichtszügen besondere Aufmerksam- 
keit geschenkt wird. Der Physiognomik unterge- 
ordnet ist die Pathognomik, die Kenntnis der Deu- 
tung des momentanen und damit veränderlich-ver- 
gänglichen Gesichtsausdruckes. 
Es stellt sich in der Skulptur, besonders aber in 
der Malerei die Frage nach der Bewerksteliigung 
des Sichtbarmachens der Gefühle. 
in der Antike wurden dem Gesichtsausdruck und 
dem Affekt kaum Wert beigemessen, die ruhige, 
ausgeglichene Form dominiert. Auch das hohe 
Mittelalter bringt hier keine wesentliche Ände- 
rung. Es wird aber eine Symbolik der Handgestik 
eingesetzt, die - stellvertretend für die Aussage 
des Bildes - Bedeutung hat. Die Gotik versucht 
durch die Darstellung der Affekte den Figuren ei- 
ne Veriebendigung zukommen zu lassen. Wenn 
man an die Gesichtszüge der Verdammten am 
Tympanon des Magdeburger Domes denkt, so ist 
eine naturnahe Form noch nicht gefunden wor- 
den, wenngleich auch intendiert. Eine gewisse 
Fratzenhaftigkeit ist nicht zu leugnen - was aber 
nicht wartend gemeint sein soll. 
Noch die Renaissance fördert eine übersteigerte 
Darstellung des Affekts. So empfiehlt Leonardo 
da Vinci das Fiaufen der Haare und Zerreißen des 
Gewandes - etwa - für Historienbilderß "Mache 
die Figur in solcher Gebarde, daß diese zur Genü- 
ge zeigen, was die Figur im Sinne hat. Wo nicht, 
so ist deine Kunst nicht lobenswertld 
Albrecht Dürer zeigt in den Porträtstudien und vor 
allem in den Arbeiten, die sich mit der Propor- 
tionslehre beschäftigen, auch skurrile Köpfe, die 
einsetzendes physiognomisches Interesse bekun- 
den, andererseits schon das keimende Wohlgefal- 
len am Außergewöhnlichen und Monströsen er- 
kennen lassens (Abb. 1 und 2). Am Hof Rudolfs ll. 
wird durch die Porträts des Haarmenschen und 
seiner Familie diese Tendenz offenkundigF Die 
Problematik, den Charakter der darzustelienden 
Person im Abbild deutlich werden zu lassen, stellt 
sich naturgemäß vor allem in der Porträtkunst. 
Hier gibt es vorerst - etwa bei den Stifterbiidnis- 
sen in der Gotik - den Versuch, ein charakteristi- 
sches Herrscherbildnis zu liefern, das eine nach- 
trägliche Identifizierung ermöglicht. Daher wer- 
den besonders charakteristische Formen des Ge- 
sichts wie auch der Haartracht nicht unwesentlich 
dazu beitragen, den Stifter erkennbar zu machen. 
Daneben gibt es den Versuch der ldealisierung 
des Porträtierten - nicht nur hinsichtlich der Äs- 
thetik. ist dem Porträt eine Verdeutlichung des 
Charakters hinzuzufügen und in ihm herauszuar- 
beiten oder ist der Darzusteilende völlig zu ideali- 
sieren, wie er zum Beispiel aufgrund seiner Her- 
kunft und vor allem Stellung in der Hierarchie sein 
sollte? Zwischen diesen beiden Extremen oszil- 
liert die Porträtkunst besonders seit der Spatre- 
naissanoe. Waren oft Attribute eine Möglichkeit, 
die Geisteshaltung des Dargestellten aufzuzei- 
gen, so wird nun die Forderung gestellt, den inne- 
ren Charakter optisch sichtbar zu machen, zu ver- 
deutlichen. 
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