iich. Nach Salen haben große Augen ebenso wie
ein großer Kopf teils gute, teils schlechte Bedeu-
tung: sind sie bei ihrer Größe wohlgeformt und
ausdrucksvoll, so kann man auf reichliche und gu-
te Zusammensetzung des zugrunde liegenden
Stoffes schließen. Der Hirsch hat große, schöne
Augen und ist ein kluges Tier. Sokrates hatte nach
Polemon" große, erhabene, leuchtende Augen,
die, wie Plato im Theaetet erzählt, etwas vorstan-
den; er war gerecht, klug, eifrig und liebevoll; Apol-
lo nannte ihn den weisesten Menschennt"
Es folgen weitere Aufzählungen historischer Per-
sönlichkeiten, die ebendiese Augen aufwiesen.
Della Porta ist bemüht, durch das Hinweisen auf
antike Texte, aber auch durch charaktermäßig be-
kannte Persönlichkeiten der Geschichte seine Er-
kenntnisse zu belegen. Wenn nun im ausgehen-
den 17. Jahrhundert Charles Le Brun" darangeht,
An
nach einer rein naturwissenschaftlichen Methode
der Pathcgnomik gerecht zu werden, entsteht der
Unterschied nicht allein durch Methodikv, son-
dern auch in der Absicht: Dieses Standardwerk
der pathognomischen Studie ist der Traktat mit
dem Titel wSur Vexpression generaie et particu-
liers des Passionstt, als Vortrag 1667 gehalten und
vor allem für Künstler gedacht, wodurch er sich
rein grundsätzlich von della Porta unterscheidet.
Le Brun versucht in dieser Studie an der französi-
schen Akademie, die Entwicklung der Seelenre-
gungen und ihren Ausdruck im Gesicht des Men-
schen zu analysieren. Er stellt die Frage, wie eine
solche Empfindung zustande kommt und von wel-
chen Organen im menschlichen Körper sie ihren
Ausgang nimmt. Bestimmte Gesichtsleile hält er
für besonders wichtig: so weist er den Augenbrau-
en eminente Bedeutung zu. An ihnen sei das Ge-
fühl ablesbar, er hält sie sogar für ausdrucksstar-
ker als die Augen. Um die Absicht Le Bruns zu er-
klären, sind die einleitenden Worte des Herausge-
bers der Ausgabe von Verona 1751 sehr geeignet:
"Da die Kenntnis des Menschen notwendigerwei-
se die Kenntnis seiner Leidenschaften voraus-
setzt, die die Bewegung des Herzens und die
Handlungsweise beinhalten, widmet man sich
dem Studium der Natur und der Auswirkungen die-
ser Leidenschaften. Die Philosophen beschäftig-
ten sich mit diesem Thema, um zu lernen, die Lei-
denschaften als bloße Vernunft darzulegen, und
ken, darüber eine besondere Studie mit Rücksicht
auf die Malerei, die all jene Bewegungen aus-
drücken muß, die sich äußerlich offenbaren, zu
verfassen. Herr Le Brun, bekannt durch seine aus-
gezeichneten Arbeiten, erklärte sich bereit, eine
Studie mit Rücksicht auf die Kunst zu verfassen,
welche, obwohl sie nur aus einfachen Strichen zu-
sammengesetzt war, nichtsdestoweniger die Man-
nigfaltigkeit dieser Gefühlsbewegungen zum Aus-
druck bringen mußtem"
Da Le Brun hauptsächlich der Stellung der Augen-
braue seine Aufmerksamkeit schenkt und vor al-
lem aus ihnen das gerade vorherrschende Gefühl
deutet, sollen die entsprechenden Textstellen zi-
tiert werden: "Die Ehrfurcht - aber wenn sich
vom Glauben die Ehrfurcht entwickelt, werden die
Brauen in ebenderselben Lage gesenkt wie eben
erwähnt, und das Gesicht ist genauso geneigt,
A
A.
aber die Lider erscheinen höher erhoben unter den
Brauen, der Mund wird halb geöffnet, die Mund-
winkel hinuntergezogen, aber ein wenig mehr hin-
untergezogen als bei vorhergehender Tat. Dieses
Senken der Brauen und Mundwinkel gibt die Un-
terwürfigkeit und die Achtung an, welche die See-
le für ein Subjekt hat, von dem es glaubt, es sei
über ihm. Das hochgezogene Augenlid scheint die
Erhebung zu dem Objekt zu bezeichnen, das er
achtet und das er als verehrenswürdig aner-
kenntß" (Abb. 12)
Die Ehrfurcht findet sich auch noch in zwei weite-
ren Variationen, die zeichnerisch genauer ausge-
führt sind. Die gesteigerte Ehrfurcht zeigt, daß ein
gesteigertes Gefühl oft in eine andere Haltung
umschlägt: Niederschlagen der Augen, Neigung
des Kopfes. Dazu Le Brun: "Aber wenn die Vereh-
rung für ein Objekt verursacht wird, für das man
Glaube empfindet, sind alle Teile des Gesichts
viel mehr als in der ersten Stellung gesenkt, die
Augen und der Mund sind geschlossen, das zeigt,
daß in dieser Situation die äußerlichen Sinne kei-
nen Anteil daran habenß" (Abb. 13 und 14)
Anders als die Musterbücher der Malerei, die zu-
meist mit nur spärlichem Text - wenn überhaupt
- versehen sind, die als Beispiele für Werkstätten
und deren noch ungeübte Künstler anzusprechen
sind oder aber als Vorlagewerk und lnspirations-
quelle dienen, sind die theoretisch naturwissen-
schaftlich ausgerichteten Werke der Physio-
problem, das im 17. Jahrhundert erstm
größter Durchschlagskraft auftritt, erford
Künstler nicht nur die Kenntnis - etwa de
graphie - der darzustellenden Personen,:
auch ein zielbewußtes Einsetzen eines
sprechenden Gesichtsausdruckes.
Die ideale Verbindung zwischen Natur
schafter und ausübenden Künstler reprä
Le Brun. Wenn auch seine Ansichten der
nen Gesichtspunkten der Psychologie ur
zin zuwiderlaufen mögen, so steht doch hi
nem Bemühen die Absicht, die Kunst aus
fälligkeit ihres Daseins zu einem Bewuß
ihrer Methode zu führen.
Ein Höhepunkt der Physiognomik wird mit
Kaspar Lavater gegen Ende des 18. Jahrr
erreicht." Er versuchte, sie in den Flar
ernsthaft betriebenen Wissenschaft zu ht
Die Pathognomik findet ihre Manifestatio
Charakterköpfen Franz Xaver Messerschn
ne psychologische Studie zu eben dieser
renreihe wurde von Ernst Kris unternomn
von der krankhaften Veranlagung des K
ausgehend, eine Deutung der Werke verst
bei wird eine allgemeine Entwicklung der
gnomik vorgestellt, die auch die Grundlagt
sen Aufsatz gebildet hat."
Wenn man nun die Gegenwart heranzieht
Fortwirken in der Kunst aufzuzeigen, bie
zwei Künstler im heimischen Bereich an?
So hat Arnulf Rainer bei der Übermalun
wface farcesu auch auf Vorlagen nach
schmidt gegriffen (Abb. 15). Florentina
hat in einer Ausstellung in Graz 1977 Radi
zu den Köpfen Messerschmidts geschal
schließend sei ihre Aussage zur Physiogr
tiert: "Nach eigener Erfahrung, die ich
Gebiet der Physiognomik gemacht habe,
te ich alle Theorien, die einen Zusammenl
Gesichtsproportionen und des Charakter
wollen, mit großer Skepsis, denn absichl
gefaßte Meinungen, Vorurteile und Verlt
gen sind dabei nur zu oft ausschlaggeber
gen sehe sich einen Zusammenhang z
dem psychischen Zustand und der bew
Gesichtsmuskulatum (...) "Man kann at
übersehen, daß ein Leben mit vorgetäuscl
sichtsausdruck zur Verstellung auf alle l
Unpersönlichkeit führt. Das eigentliche lt
verborgen, man will nicht erkannt wert
Freiheit, sich erkennen zu lassen, wird al
Stücken hinter selbstgewahlte Schranke:
sen (Abb. 16). Tatsächlich ist es so, daß
unter Unfreiheit am meisten leiden. Selb:
se sind dann vielleicht ein Ventil für je
sprache, die nur zwischen im Geiste Ver
möglich iStxi"
15 Arnulf Rainer, Furchenprcfil. Uberzeichnung
Messerschmidt, "Der Verdrießlichett
16 Florentina Pakosta, Selbstbildnis hinter D
Radierung
Anmerkungen 1B - 28
" Antonius Polerrlon, geb, B5 n. Chr., Verfasser einer i
erhaltenen Physiognomik.
w WIE Anmk. 1, 13.237.
3" Charles Le Brun, geb. 1519 - gesl.1690.
2' Er geht von Descartes aus. Dieser strebte eine
menschlichen Gefühle an. Vorlesung von Univ-Prc
Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Win
1979180.
" Charles Le Brun, Sur Vexpression generale et part
passions,Verena1751,p.XVllll.
13 ders. a.a.0., p. 45
1' ders. a.a.0., n. A7
1' Jorl. Kaspar Lavater, geb. 1741 - gest.1801,Physii
Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntni
schenliebe, 1775.
1' Franz Xaver Messerschmidt, geb. 1736 7 gest 17E
Ernst Kris, Die Charakterköple des Franz Xaver Mes
Versuch einer historischen und psychologischen I
Jahrbuch der Kunsthistortschen Sammlung in Wiel