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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXVI (1981 / Heft 174 und 175)

neare Zeit ist nur eine der möglichen Formen der 
sozialen Zeitu, schreibt Aaron Jakowiewitsch Gur- 
jewitsch ("Das Weltbild des mittelalterlichen Men- 
sehen-i). 
Auffallend ist bei der Betrachtung des Heran- 
wachsens und der aus der Entwicklung folgenden 
Seibstaufiösung des realistischen Romans die 
Parallele der bildenden Kunst. Der Gleichklang 
zwischen den beiden Prozessen könnte ein mögli- 
cher Beweis dafür sein, daß wir die Gesamtheit 
der künstlerischen (und natürlich auch sprach- 
künstierischen) Arbeit einer Epoche als ein Zel- 
chensystem der Änderungen des kollektiven Un- 
terbewußtseins deuten dürfen. in diesem summie- 
ren sich die zukunftsformenden Erfahrungen des 
künstlerisch tätigen Menschen (in seiner Bezie- 
hung zur Geselischaft, zurTradition, zu den forma- 
len und technischen Gegebenheiten der künstleri- 
schen Arbeit usw.), seine Überzeugungen, ideolo- 
gien, Vorurteile und als selbstverständlich emp- 
fundenen gedanklichen Prämissen, seine Hoff- 
nungen, Ahnungen und Ängste und seine dump- 
fen, aber starken Empfindungen, die ihn in die La- 
ge versetzen, einen ganz bestimmten, rational 
nicht reflektierten Geschmack zu haben, sich aus 
Zu- und Abneigungen ganz bestimmte gefühlsmä- 
ßige Fixpunkte festzulegen, die dann als Snobis- 
men einer Epoche wirksam werden konnen. Jede 
Zeit hat eine ganz bestimmte geistige Aura. Ob 
diese als geistiger "Oberbau" eines sozio-ökono- 
mischen wUnterbauesu zu betrachten ist oder als 
subtile Materialisation eines metaphysischen 
Schöpfungswiilens: diese Frage führt auf das Ge- 
biet der Spekulationen, wobei gedachte Wirklich- 
keiten oft mit der Wirklichkeit verwechselt wer- 
den. Sie gewinnen dadurch eine eigene Dynamik 
und haben dann tatsächlich Auswirkungen auf die 
Realität, die von der ursprünglichen Phantasma- 
gorie meistens abweichen. Auch die hcldeste Ver- 
einigung zwischen Traum und Berechnung kann 
mitunter idiotien hervorbringen. Die drei Entwick- 
iungsphasen des realistischen Romans haben ie- 
denfalis ihre markanten Entsprechungen in den 
Entwicklungsphasen der bildenden Kunst. Die 
Beispiele dieses Einkiangs seien hier nur ange- 
deutet. 
ln der ersten Phase tritt der realistische Roman 
(die Lehrhaftigkeit der sentimentalen Schwärme- 
rei überwindend) bei Baizac, Thackeray und 
Dickens hervor. Der Zeitablauf ist linear. Die 
Handlung ist exemplarisch für das Treiben der 
Großstadt. Die Figuren sind Typen. in ihren Hand- 
lungen widerspiegelt sich ein gesellschaftlicher 
Mechanismus. Der Autorvergieicht sich mit einem 
naturwissenschaftlichen Forscher. Die Leser- 
schaft ist homogen und überschaubar. Sie kristal- 
lisiert sich um Gazetten. Der Maler Camiiie Corot 
ist drei Jahre alter als Baizac, der Graphiker Hono- 
re Daumier neun Jahre jünger. Die realistischen 
Romanautoren schreiben ihre Hauptwerke in der 
Zeit, in der Miilet und Ccurbet mit der Arbeit begin- 
nen. An der Erkennbarkeit und Abbiidbarkeit des 
Menschen besteht in der Biidweit dieser Maler 
kein Zweifel, und im menschlichen Antlitz, aber 
auch in der Landschaft verkörpert sich nach ihrer 
Auffassung restlos begreifbare gesellschaftliche 
Realität. 
in der zweiten Phase erreicht der realistische Ro- 
man eine weitere Entwicklungsstufe. Für diese ist 
Gustave Flaubert beispielhaft. Der Autor hat sich 
seinem Gegenstand genähert, so daß er im linea- 
ren Zeitablauf einen gewissen inneren Rhythmus 
wahrnimmt. Manches dehnt sich aus, anderes hat 
verblüffend kurze Dauer. Die ersten Zeichen einer 
Traumzeit sind vorhanden. Thomas Mann nennt 
das wträumerische Zusammenziehung der Zeit". 
Die Handlung ist weniger typisch. Sie hat sich ab- 
gesondert, ist absonderlicher geworden, hat sich 
individualisiert. Der gesellschaftliche Mechanis- 
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mus wird als eine wesentliche Komponente des 
seelischen Mechanismus dargestellt: das Sicht- 
bare geht in das Unsichtbare über, die Materie 
setzt sich in der Seele fort. Der Autor halt sich für 
einen Naturwissenschaftier besonderer Art, je- 
doch auf ganz bestimmte subtiie Prozesse spezia- 
iisiert. Die Leserschaft ist größer geworden. Sie 
ist zwar mehr oder minder homogen, aber nicht 
mehr überschaubar. Sie gruppiert sich sozial, gei- 
stig, nach der Beschaffenheit des literarischen Le- 
bens und der Werbung. (Die Brüder Goncours be- 
schreiben ihre Versuche, ein schnelles und günsti- 
ges Presseecho zu bewirken: gezielte Einladun- 
gen bei einer Prinzessin in Anwesenheit maßgebli- 
cher Kritiker, Besuch bei Rezensenten usw.) Die 
sinniich erfaßbare Ausformung psychischer Vor- 
gänge gewinnt durch Baudeialre lyrischen Aus- 
druck. Baudeialre und Flaubert sind im selben 
Jahr geboren. Die Namen, die für die bildende 
Kunst die Entsprechung tatsächlich signalisieren, 
sind Pissarro und Degas, doch melden sich bald 
auch die Jüngeren: Sisley, Cezanne, Monet und 
Rodin. im Jahr, in dem Baudeialre seine wBiumen 
des Bösen-l veröffentlicht, ist Pissarro siebenund- 
zwanzig, Degas um vier Jahre jünger. im Todes- 
iahr Flauberts sind die "Jüngeren" Männer um die 
vierzig. Die Wirklichkeit als abbildbares Etwas hat 
sich sowohl für die Schriftsteller wie für die bil- 
denden Künstler vielfach gespalten. Die wahr- 
nehmbare Form ist in der Literatur zum Ausdruck 
psychischer Vorgänge geworden, und auch die 
Maler wollen nicht mehr die Realität festhalten, 
sondern deren subjektives, in der subiektiven 
Wahrhaftigkeit der Seele verankertes Bild: die im- 
pression. Nur Cezanne entscheidet sich nach und 
nach für die andere Möglichkeit. Vor die Wahl ge- 
stellt, sich entweder für die seelische Wirklichkeit 
oder für die in sich schlüssige autonome Gesetz- 
mäßigkeit der auf dem Bild sichtbaren Form zu 
entscheiden, wählt er die Form an sich. Sein Ver- 
zicht auf den Subjektivismus führt notwendiger- 
weise zur Autonomie des Objekts. 
in der dritten Phase wird die realistische Methode 
- durchaus noch im Sinne Baizacs und Flauberts 
- auf die Spitze getrieben, wo sie sich selber auf- 
löst oder, besser gesagt, in eine andere - ihr im 
Wesen entgegengesetzte - Methode übergeht. 
Signifikant für diesen Übergang ist das Roman- 
werk von Marcei Proust. Der Autor hat sich seinem 
Gegenstand nicht nur genähert, er hat sich in die- 
sen gleichsam versenkt: er nimmt nur die Realität 
der Erinnerung wahr, schafft eine eigene Traum- 
zeit mit individuellen Gesetzmäßigkeiten und mit 
eigenen, gegenüber der anderen Wirklichkeit ab- 
geschirmten Regeln. Die Handlung ist dieser 
Eigenart der Erinnerung untergeordnet: Darstel- 
iung fügt sich an Reflexion, der radikal subjektive 
Standort vermag Beobachtung mit Selbstbeob- 
achtung zu vereinen. Die gesellschaftlichen Bezü- 
ge sind nicht ohne weiteres sozusagen strukturell 
begreifbar - sie äußern sich durch die Arabesken 
der Erinnerung und werden durch das Detail eben- 
so verdeckt wie sichtbar gemacht. Der Autor hat 
sich in einen Spezialisten verwandelt, der seinem 
Werk seine Gesundheit und letztlich sein Leben 
opfert. Er ist Versuchskaninchen und Forscher in 
einer Person und seziert sich selbst. Die Leser- 
schalt ist für sein Bewußtsein unwesentlich ge- 
worden, er schreibt vor allem für sich selbst, um, 
von dem ethischen (oder auch nur vitalen) Grund 
ausgehend, der Vergänglichkeit eine relative Un- 
Vergänglichkeit zu verleihen. Mit Werbung be- 
schaftigt er sich nicht, obwohl er sich nach Aner- 
kennung sehnt (allerdings nur nach der Anerken- 
nung eines kleinen Kreises), denn für dieses Ge- 
schalt gibt es bereits Spezialisten. Inzwischen ha- 
ben Manet, Gauguin, van Gogh, Seurat, Toulouse- 
Lautrec die impressionistische Methode bis an 
den Rand ihrer Möglichkeiten vorwärtsgetrieben, 
1 Henri Laurens, Ozeanide, 1933 
2 weibliches ldol, Naqada-i-Kultur, Amratien, um 4200 
bis 3600 v.Chr.
	        
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