neare Zeit ist nur eine der möglichen Formen der
sozialen Zeitu, schreibt Aaron Jakowiewitsch Gur-
jewitsch ("Das Weltbild des mittelalterlichen Men-
sehen-i).
Auffallend ist bei der Betrachtung des Heran-
wachsens und der aus der Entwicklung folgenden
Seibstaufiösung des realistischen Romans die
Parallele der bildenden Kunst. Der Gleichklang
zwischen den beiden Prozessen könnte ein mögli-
cher Beweis dafür sein, daß wir die Gesamtheit
der künstlerischen (und natürlich auch sprach-
künstierischen) Arbeit einer Epoche als ein Zel-
chensystem der Änderungen des kollektiven Un-
terbewußtseins deuten dürfen. in diesem summie-
ren sich die zukunftsformenden Erfahrungen des
künstlerisch tätigen Menschen (in seiner Bezie-
hung zur Geselischaft, zurTradition, zu den forma-
len und technischen Gegebenheiten der künstleri-
schen Arbeit usw.), seine Überzeugungen, ideolo-
gien, Vorurteile und als selbstverständlich emp-
fundenen gedanklichen Prämissen, seine Hoff-
nungen, Ahnungen und Ängste und seine dump-
fen, aber starken Empfindungen, die ihn in die La-
ge versetzen, einen ganz bestimmten, rational
nicht reflektierten Geschmack zu haben, sich aus
Zu- und Abneigungen ganz bestimmte gefühlsmä-
ßige Fixpunkte festzulegen, die dann als Snobis-
men einer Epoche wirksam werden konnen. Jede
Zeit hat eine ganz bestimmte geistige Aura. Ob
diese als geistiger "Oberbau" eines sozio-ökono-
mischen wUnterbauesu zu betrachten ist oder als
subtile Materialisation eines metaphysischen
Schöpfungswiilens: diese Frage führt auf das Ge-
biet der Spekulationen, wobei gedachte Wirklich-
keiten oft mit der Wirklichkeit verwechselt wer-
den. Sie gewinnen dadurch eine eigene Dynamik
und haben dann tatsächlich Auswirkungen auf die
Realität, die von der ursprünglichen Phantasma-
gorie meistens abweichen. Auch die hcldeste Ver-
einigung zwischen Traum und Berechnung kann
mitunter idiotien hervorbringen. Die drei Entwick-
iungsphasen des realistischen Romans haben ie-
denfalis ihre markanten Entsprechungen in den
Entwicklungsphasen der bildenden Kunst. Die
Beispiele dieses Einkiangs seien hier nur ange-
deutet.
ln der ersten Phase tritt der realistische Roman
(die Lehrhaftigkeit der sentimentalen Schwärme-
rei überwindend) bei Baizac, Thackeray und
Dickens hervor. Der Zeitablauf ist linear. Die
Handlung ist exemplarisch für das Treiben der
Großstadt. Die Figuren sind Typen. in ihren Hand-
lungen widerspiegelt sich ein gesellschaftlicher
Mechanismus. Der Autorvergieicht sich mit einem
naturwissenschaftlichen Forscher. Die Leser-
schaft ist homogen und überschaubar. Sie kristal-
lisiert sich um Gazetten. Der Maler Camiiie Corot
ist drei Jahre alter als Baizac, der Graphiker Hono-
re Daumier neun Jahre jünger. Die realistischen
Romanautoren schreiben ihre Hauptwerke in der
Zeit, in der Miilet und Ccurbet mit der Arbeit begin-
nen. An der Erkennbarkeit und Abbiidbarkeit des
Menschen besteht in der Biidweit dieser Maler
kein Zweifel, und im menschlichen Antlitz, aber
auch in der Landschaft verkörpert sich nach ihrer
Auffassung restlos begreifbare gesellschaftliche
Realität.
in der zweiten Phase erreicht der realistische Ro-
man eine weitere Entwicklungsstufe. Für diese ist
Gustave Flaubert beispielhaft. Der Autor hat sich
seinem Gegenstand genähert, so daß er im linea-
ren Zeitablauf einen gewissen inneren Rhythmus
wahrnimmt. Manches dehnt sich aus, anderes hat
verblüffend kurze Dauer. Die ersten Zeichen einer
Traumzeit sind vorhanden. Thomas Mann nennt
das wträumerische Zusammenziehung der Zeit".
Die Handlung ist weniger typisch. Sie hat sich ab-
gesondert, ist absonderlicher geworden, hat sich
individualisiert. Der gesellschaftliche Mechanis-
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mus wird als eine wesentliche Komponente des
seelischen Mechanismus dargestellt: das Sicht-
bare geht in das Unsichtbare über, die Materie
setzt sich in der Seele fort. Der Autor halt sich für
einen Naturwissenschaftier besonderer Art, je-
doch auf ganz bestimmte subtiie Prozesse spezia-
iisiert. Die Leserschaft ist größer geworden. Sie
ist zwar mehr oder minder homogen, aber nicht
mehr überschaubar. Sie gruppiert sich sozial, gei-
stig, nach der Beschaffenheit des literarischen Le-
bens und der Werbung. (Die Brüder Goncours be-
schreiben ihre Versuche, ein schnelles und günsti-
ges Presseecho zu bewirken: gezielte Einladun-
gen bei einer Prinzessin in Anwesenheit maßgebli-
cher Kritiker, Besuch bei Rezensenten usw.) Die
sinniich erfaßbare Ausformung psychischer Vor-
gänge gewinnt durch Baudeialre lyrischen Aus-
druck. Baudeialre und Flaubert sind im selben
Jahr geboren. Die Namen, die für die bildende
Kunst die Entsprechung tatsächlich signalisieren,
sind Pissarro und Degas, doch melden sich bald
auch die Jüngeren: Sisley, Cezanne, Monet und
Rodin. im Jahr, in dem Baudeialre seine wBiumen
des Bösen-l veröffentlicht, ist Pissarro siebenund-
zwanzig, Degas um vier Jahre jünger. im Todes-
iahr Flauberts sind die "Jüngeren" Männer um die
vierzig. Die Wirklichkeit als abbildbares Etwas hat
sich sowohl für die Schriftsteller wie für die bil-
denden Künstler vielfach gespalten. Die wahr-
nehmbare Form ist in der Literatur zum Ausdruck
psychischer Vorgänge geworden, und auch die
Maler wollen nicht mehr die Realität festhalten,
sondern deren subjektives, in der subiektiven
Wahrhaftigkeit der Seele verankertes Bild: die im-
pression. Nur Cezanne entscheidet sich nach und
nach für die andere Möglichkeit. Vor die Wahl ge-
stellt, sich entweder für die seelische Wirklichkeit
oder für die in sich schlüssige autonome Gesetz-
mäßigkeit der auf dem Bild sichtbaren Form zu
entscheiden, wählt er die Form an sich. Sein Ver-
zicht auf den Subjektivismus führt notwendiger-
weise zur Autonomie des Objekts.
in der dritten Phase wird die realistische Methode
- durchaus noch im Sinne Baizacs und Flauberts
- auf die Spitze getrieben, wo sie sich selber auf-
löst oder, besser gesagt, in eine andere - ihr im
Wesen entgegengesetzte - Methode übergeht.
Signifikant für diesen Übergang ist das Roman-
werk von Marcei Proust. Der Autor hat sich seinem
Gegenstand nicht nur genähert, er hat sich in die-
sen gleichsam versenkt: er nimmt nur die Realität
der Erinnerung wahr, schafft eine eigene Traum-
zeit mit individuellen Gesetzmäßigkeiten und mit
eigenen, gegenüber der anderen Wirklichkeit ab-
geschirmten Regeln. Die Handlung ist dieser
Eigenart der Erinnerung untergeordnet: Darstel-
iung fügt sich an Reflexion, der radikal subjektive
Standort vermag Beobachtung mit Selbstbeob-
achtung zu vereinen. Die gesellschaftlichen Bezü-
ge sind nicht ohne weiteres sozusagen strukturell
begreifbar - sie äußern sich durch die Arabesken
der Erinnerung und werden durch das Detail eben-
so verdeckt wie sichtbar gemacht. Der Autor hat
sich in einen Spezialisten verwandelt, der seinem
Werk seine Gesundheit und letztlich sein Leben
opfert. Er ist Versuchskaninchen und Forscher in
einer Person und seziert sich selbst. Die Leser-
schalt ist für sein Bewußtsein unwesentlich ge-
worden, er schreibt vor allem für sich selbst, um,
von dem ethischen (oder auch nur vitalen) Grund
ausgehend, der Vergänglichkeit eine relative Un-
Vergänglichkeit zu verleihen. Mit Werbung be-
schaftigt er sich nicht, obwohl er sich nach Aner-
kennung sehnt (allerdings nur nach der Anerken-
nung eines kleinen Kreises), denn für dieses Ge-
schalt gibt es bereits Spezialisten. Inzwischen ha-
ben Manet, Gauguin, van Gogh, Seurat, Toulouse-
Lautrec die impressionistische Methode bis an
den Rand ihrer Möglichkeiten vorwärtsgetrieben,
1 Henri Laurens, Ozeanide, 1933
2 weibliches ldol, Naqada-i-Kultur, Amratien, um 4200
bis 3600 v.Chr.