Über-Gang. Die bildende Kunst ist voll von Darstel-
lungen der Höiienqualen und spiegelt diese neue
Angst. Vor allem die Gleichsetzung von Todes-
stunde und Jüngstem Gericht bewirkt, daß die
Angst vor einer trostlosen Ewigkeit sich auf den
Tod selbst ausdehnt.
Dennoch blieb seit den Anfängen die Sterbestun-
de und damit der Tod selbst in einem Ritual ge-
bändigt. Die Übernahme einer aktiven Rolle des
Sterbenden, die Abschiedsszene und die Trauer-
bekundung sind feste Bestandteile. Der Sterben-
de war Mittelpunkt einer Versammlung: Ärzte und
Hygieniker begannen über die sich im Sterbezim-
mer drängende Menschenmenge zu klagen, aller-
dings ohne großen Erfolg. Denn noch zu Beginn
des 19. Jahrhunderts (Philipp Aries belegt einen
Fall 1830 in Bad lschl) konnte jeder, sogar ein der
Familie Unbekannter, wenn das Viaticum (die
Sterbesakramente) zu einem Kranken getragen
wurde, sich dem Priester auf der Straße anschlie-
ßen und das Zimmer des Sterbenden betreten.
Man starb öffentlich. Der Mathematiker und Philo-
soph Blaise Pascal wagte 1662 die ungeheure Pro-
phezeiung, daß man allein sterben werde. Heute
ist dieser Satz zur Banalität verblaßt, denn man
hat in der Tat die denkbar größten Aussichten, in
der Einsamkeit eines Krankenzimmers zu sterben.
Pascal sah aber bloß als erster die Konsequenz ei-
ner unerhörten kulturellen Umwälzung. Mit wach-
sender wissenschaftiicher Rationalität, ihren Er-
findungen und technischen Anwendungen entglltt
der stets mühsam gebändigte Tod seinen Fes-
seln. Biinder Fortschrittsglauben bewirkte, daß
der Tod alles, was ihm einst an Nahem, Vertrau-
tem und Gezahmtem eigen war, wieder auflöst in
heimtückischer Grausamkeit. Die letzten Worte
von Hobbes sollen gewesen sein: wich tue einen
schrecklichen Sprung ins DunkeLu in keiner Epo-
che beschäftigte man sich dann so intensiv mit
der Frage, was nach dem Tod folgt, wie in der Auf-
klarung. Die Leugnung der Unsterblichkeit avan-
cierte zur philosophischen Haltung schlechthin.
Der Tod ist nicht mehr als ein unvermeidlicher und
unangenehmer Unglücksfall der Natur, verkünden
von da an die handiungslegitimierenden Theorien
des Fortschritts. Dank der "Kraft der Vernunft"
laßt das menschliche Leben viele Verbesserungen
zu, und das whic et nuncu wird zum präsenten und
einzigen Boden der Glückseligkeit. Die Unsterb-
llchkeit galt nun als pfaifische Lüge, man müsse
diese Vorstellung entlarven und ausrotten, um ein
Leben in Freiheit und Glück für alle Menschen zu
erlangen oder doch wenigstens für zukünftige Ge-
neratlonen. Böses und individuelles Leid bilden
bloß den Hebel zur Emanzipation. Die Abwesen-
heit von Körper und Tod, von Geschlecht und
Aggression, die Umstülpung all dieser Fakten in
rein gesellschaftliche, die das ungenügende inter-
pretatlonsangebot des Marxismus für unsere Exi-
stenz kennzeichnen, hat im 18. Jahrhundert seine
historische Wurzel.
Der Tod wird durch die Zukunft verdrängt, durch
die Verheißungen künftigen Glücks. Die Möglich-
keit hat Vorrang vor der Wirklichkeit, die selbst
bloß als Grenzfall des Möglichen erscheint. Was
den. Tod angeht, so gehört das Wissen, wie man
stirbt, einfach zur Lebenskunst eines aufgeklärten
Weltbürgers. Hoibach, der Verfasser des einfiuB-
reichen "Systeme de la naturew, verläßt sich ganz
auf die Philosophie. Sie ist für ihn in Wahrheit
nichts anderes als eine Meditation über den Tod.
Wir müssen uns mit dem unvermeidbaren vertraut
machen und dem Tod gelassen entgegensehen.
Vor allem darf er nicht die Freuden des Lebens
hindern: die Todesfurcht ist der einzig wahre
Feind, den es zu überwinden gilt.
Während Kant und Fichte den Glauben an die Un-
sterblichkeit neu zu begründen versuchten, setz-
ten sich die französischen Materiaiisten für eine
stoische Haltung egenüber dem Tod ein, der für
sie vollständige Vernichtung war. Die romanti-
schen Dichterphilosophen fanden dagegen eine
grundlegende neue Antwort auf das Todespro-
biem. Die Angst vor dem Tod, die in den Phanta-
sien des 17. und 18. Jahrhunderts aufkeimt, wird
auf den Tod des geliebten Wesens hin verscho-
ben. Der Tod ist "Trennung der Liebenden-x. Diese
Antwort unterscheidet sich von der platonischen
ldealisierung des Todes durch die Gefühisbetont-
heit einer grenzen- und vernunftlosen Leiden-
schaft. Der Tod wird Schönheit, Pracht, Größe und
Heiligkeit zuleich, wie Hölderlin und Schieierma-
cher verdeutlichen. Schellings Naturmystizismus
verkündet: Der Tod ist schön wie die Unermeßiich-
keit der Natur, schon wie das Meer oder die Heide.
Novaiis steigert den Tod zum iiromantisierenden
Prinzip des Lebensu, zu seiner Vollendung. "Leben
ist der Anfang des Todes. Das Leben ist um des
Todes willen.
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