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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXVII (1982 / Heft 183)

braungelb das Haar des gebeugten Kindes, grünes 
Wams, braunes Haar. doch auch ein blaues Spielzeug, 
des aufgewendeten Kindes; das stehende, fünfte Kind 
trägt dunkle, blaueSchürze und gedämpft helle, sand- 
graue Jacke. insoweit sind die Dunkelheiten in ge- 
dämpfte Helligkeiten eingebettet. sind räumlich stei- 
gendin Entwicklung;doch gegenüberderdritten undvor 
der fünften Figur tritt, da Blau in Spielzeug und Schürze 
mit einemmal zur Dunkelheit gezogen wird, in der vier- 
ten Figur intensivste Helligkeitfrei heraus, in ihrvom Ro- 
sa des Beinkleides über das Grau (auf Bräunlich) des 
Kleides zum strahlenden Weiß des Kittels unter dem 
Blond des Haares entwickelt; und, motivisch, damitver- 
bunden, daß das Mädchen vor dem aus dem blauen 
Kästchen herausspringenden Kasperl erstaunt, erhei- 
tert-verlegen zurückfährt. Die Durchführung in Dunkel 
dientder Freisetzung von Helligkeit. Zur Materialität der 
Farbe: indieserGruppe wird bei den Farben. alsCharak- 
terderselbenunablosbanmitinsSpielgebrachtdasSei- 
dige im Kittel der ersten Figur, das Samtige in den Wäm- 
sern der Wendefigur und das Sandig-Trockene in der 
aufgerichteten Figur. Neben diesem schnellen Wech- 
sel und auch im Kontrast dazu tritt die Helligkeit in ihrer 
intensivsten Stufe im Kittel des Mädchens als strahlen- 
de Helligkeit ohne materiale Stimmung frei heraus. In 
derdrittenGruppe eine neue Folge und eine neue Bewe- 
gung: In derersten Figur sind farblich. überweiß und rot 
gestreiften Strümpfen, deren Rot zu den drei farblichen 
Fixpunkten des Bildes gehört. jetzt Dunkel und Hell bei- 
sammen, das Kleid schwarz. folgend dem zweiten Kind 
der vorigen Gruppe. und rot. antwortend dem dritten 
Kind der vorigen Gruppe, und der Kittel weiß, doch 
rötlich-bläulich, folgend dem hellen Kinde, seinem Kit- 
tel, seinem Beinkleid und dem Spielzeug, vor dem es er- 
schrickt, doch milde und nur in farblicher Brechung; es 
folgt in der zweiten Figur höchster seidiger Glanz. rosa 
im Kleid und bläulich im Kittel gestimmt; es folgtdie drit- 
te FigurinderTielemit schwarzem Haarundbläulichem 
Kleid; und - ausgegangen vom Hell-Dunkel vereint in 
der ersten Figur, über höchsten seidigen Glanz in der 
zweiten Figur. das blauliche Kleid der dritten Figur, nun 
zu farbigen seidigen Graus übergehend - folgen die 
letzten der Gruppe, das fernere Kind in Weiß mit gräuli- 
chen, rötlichen undbräunlichen Schatten und das nähe- 
re Kind in Weiß mit im Rücken fast grauen, sonst eben- 
falls gräulichen, rötlichen und bräunlichen Scharten. 
Darnach die vierte Einheit des Bildes als Ziel der Farb- 
bewegung und Schluß der Komposition in entschiede- 
ner materialer Spaltung: rot der Teppich und braun, 
doch extrem material mahagonifarben der Tisch, und 
jenseits, wie entrückt dem Materialen, leuchtend im 
Licht die Frau, grau, blau, rot, braun in der Bluse und mit 
hellem Schimmer rechtsseltlich ihres Hauptes. Die 
Frau. leuchtend, folgt, abgehoben als Schluß, zugleich 
derdritten Gruppe, seidig, wie in derzweiten das zurück- 
fahrende Kind,hell,aufdieanderemsamtig;sodiedyna- 
misch-metrische Dehnung schwellend. Die Proportion 
der Figurenzahl in der Gesamtfoige: 4:14 +1):i5 +1]. 
Das Charakteristische in farbkompositioneller Hinsicht 
ist in dem betonten und abgehobenen Schluß, als dem 
Ziel der farblichen Bewegung, in der Entgegensetzung 
von Materialem (Mahagoni) und Leuchten evident. Ei- 
nen solchen Gegensatz herauszubringen dienen a) die 
Durchführungen über wechselnde Lichtphänomene, 
über reine Lichtphänomene, wie das Hell gegen ein 
Dunkel in der zweiten Gruppe, und materialgebundene 
Lichtphanomene, wie der Glanz gegen ein Hell-Dunkel, 
derSchimmer folgend auf den Glanz in derdritten Grup- 
pe, und dient b) die enge Verbindung oder im Kontrast 
plötzliche Trennung von Farbe und Stofflichkeit, wie 
samtig, seidig. Diese verschiedenen Farb-Licht-Mate- 
rialerscheinungen befinden sich in rapidem Wechsel. 
Zwei Zusätze: Ergänzend: Ein Farblichtphänornen fin- 
det sich fast nie, vom Bildgrund hervielschichtig, aufge- 
baut, somit am Platz beharrend, sondern gleitend diffe- 
renziert. Und erklarend: Die gemeinte Stofflichkeit wird 
nicht in Farbigkeit übersetzt und solcherartdar-gestellt, 
imGegenteilsolldieFarbeCharakterundSiimmungvon 
Stofflichkeit bekommen: die Farbe wird samtig, nicht 
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Samt als Farbe dargestellt: um das zu ermöglichen, 
dient der genannte rapide Wechsel dieser Materialcha- 
raktere untereinander und noch verbunden mit mate- 
rialgebundenen und reinen Lichtphänomenen: so daß 
nicht die Farbigkeit als. noch sonst eine vergleichbare, 
Bezugsebene entsteht. Dieser augenbetörende und 
fesselnde Farb-Maferial-Licht-Zauber wird auf der Ba- 
sis einer Figurenkomposition entfaltet. Und diese Basis 
ist einerseits fest. nämlich in Gruppen geordnet; sie ist 
andererseits aber ambivalent, indem es eher verwirrt, 
daß die zweiteGruppe zwaraufdie ersteGruppe mittels 
Variation ihrerje letzten Figur bezogen ist, die dritte auf 
die zweite aber(und s0forl)durchdie Zusammenraffung 
(des gerade erstauseinandergetriebenen) nun des Hell- 
Dunkel; diese Basis ist andererseits, sage ich, ambiva- 
lent und infolge der Schwellung höchst variabel. Dieser 
Zauber in seinem rapiden Wechsel dient, wenn ich rich- 
tig sehe, nun nicht einer Dar-steilung von Kindern und 
Erwachsenen; erwird selbständig; und das erstaunt-er- 
heiteri-veriegene Zurückfahren des Kindes, wodie Hel- 
ligkeit gegenüber dem Dunkel herausspringt, wird eher 
motivierend. dienend nachgeschoben. Bei diesem Ver- 
hältnis derfarblichen und figürlichen Komposition fühle 
ich mich an einen Satz von Rudolf Bockholdt erinnert, 
derin seinem Würzburgervortrag überBerliozvon Wag- 
ner gesagt hatte: nDas konventionelle, einfache Bauge- 
rüst ist mit Stoffen drapiert, die in immer prachtvollere 
Bewegung geraten und derart betörendsind, daß siedie 
ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen und den Gedan- 
ken, sie zu lüften, nicht aufkommen lassemr" 
ich kehre mit einigen Salzen zur Freisfunde im Waisen- 
haus zurück. Dieses Werk steht künstlerisch sichtlich 
auf einem ganz anderen Niveau: der betörende Wech- 
sel materialerCharaktere und Stimmungen ist gänzlich 
preisgegeben; die Farbigkeit. in der auch hier keine 
Farbtotalität angestrebt wird, ist, bei grünlich-purpurn- 
gelblichem Ton, auf die klaren, ungebrochenen Farben 
Schwarz, Rot und Weiß begrenzt - Schwarz und Weiß 
sind hier dem Rot gleichrangige Farben. Und neben der 
wFigurierungir sind allein Flaum, Licht und Farbe Mine! 
der malerischen Komposition, das sind auch jene drei, 
die Liebermann in seiner späteren Schrift iwDie Phanta- 
sie in der Malereiir in dem von der Komposition handeln- 
den Abschnittals einzige Mittel und markantunterschie- 
den, durch je eine Autorität - Velazquez, Rembrandt, 
Tizian - paradigmatisch bestätigt, hervorstellen wird? 
Das kompositionelle Verfahren aber: der schnelle 
Wechsel der dominanten Mittel. die Schwellung, und 
zwar die Schwellung zu einem herausgehobenen 
Schluß hin, sind geblieben. 
Dafür, daß das kompositionelle Thema: eine räumliche 
Figurenanordnung rechts im Bild als Schluß im Verhält- 
nis zu oder herausgeführt aus Einzelfiguren links, Lie- 
bermann noch lange beschäftigt hat, erinnere ich an 
drei Beispiele; 
a) Die Badenden Knaben des Fünfzigjährigen (1896198; 
122 x 151 cm; Neue Pinakothek München), aus zehn 
Figurenl" komponiert. Ausgehend von dem schon auf 
den Strand getretenen Knaben halb links, eine räumli- 
che Anordnung nach rechts, Einzelfiguren links und tie- 
fer. 
b) Die Badenden Knaben des Dreiundfünfzigjährigen 
(1900; 113 x 152 cm; Privatbesitz), wiederum aus zehn 
Figuren komponiert. Ausgehend von dem kleinen Kna- 
ben vornean, der den ersten Fuß zaghaft in das Wasser 
setzt. In beiden Kompositionen tritt aber das Phänomen 
der Schwellung nicht mehr auf; in diesem Bilde beson- 
ders deutlich auch, wenn man die lang hinziehenden 
Wellen mit der Wegeinfassung und der Fensterrah- 
mung der nFreistunde im Waisenhausir vergleicht. Viel- 
leicht beachtet man noch, wie die Komposition unter 
dem Horizonte, das ist zugleich dem Blick des Badeauf- 
sehers links, schwer und leicht zugleich entwickelt ist 
und aufgeht. 
c) Am ehesten einer Schwellung nahe kommt die späte- 
ste dieser Kompositionen. das Bild Nach dem Bade des 
Sechsundfünfzigjährigen (1903; 62 x 90 crn; Privatbe- 
sitz), eine Komposition ausnunzwdlf Figuren, insbeson- 
dere wenn man den gemuldeten Boden und die steigen- 
de Düne beachtet und, im Vergleich mit einer vorherge- 
henden zugehörigen Bleistiftskizzel ' füreine noch zehn- 
figurige Komposition, bemerkt, wie durch die Einfügung 
des mittleren hockenden und des rechts ihm nächstste- 
henden Knaben aus zwei nun drei stets weiträumigere 
Einheiten in atmender Folge geworden sind; doch las- 
sen die markanten blauen Schatten aufdem Sande und, 
so fern immer diese Figuren- und Gruppenlolge von der 
linken Figuren- und Gruppenfolge in Raffaeis Disputa 
ist, die gebeugten und sitzenden Gestalten, auch die 
knickende Fügung der mittleren stehenden Gestalten 
sich keine Schwellung ungehindert überhin entfallen. 
So ist A das späte Werk Liebermanns gar nicht berüh- 
rend, selbst mit den Figurenkompositiorlen des mittle- 
ren Werkes verglichen - die Komposition der "Frei- 
stunde im Waisenhaus-r im Werke des jüngeren Lieber- 
mann nach Niveau und Charakter eine eigentümliche 
Stufe: mit einer Figurenlolge. die. wie ich sagte, in un- 
meßbaren Distanzen von derzweiten, räumlichen Zone 
in die dritte, iichrdominierte geht und dann von der drit- 
ten, lichfdominierten ausdem Lichtflimmernden, immer 
mehr anschwellend, durch die räumlich dominierte, 
dämmrige, in die erste. rarbdominierle zu so farbigem, 
klarem, vollrundem, nicht hochüberwölbtem, sondern 
tief, schwer, tiefer als die Anhebungsfiguren, gebunde- 
nem Schluß geht. Man vergleiche auch die unmittelbar 
vorhergehende FarbskizzeÄZ 
Fürdiese Stufe seiner Entwicklung nun, die Liebermann 
in München erst erreichte. ist es da falsch, zu fragen: ob 
dieses Anschwellende. aus dem Lichtflimmernden 
durch das Dämmrige, räumlich verspannte zu dem Vo- 
luminaren, Runden, Festen, örtlich Tiefen nicht mit der 
Herabkunft des Grals im Vorspiel des Lohengrinßver- 
wandt ist; eher jedenfalls als mit Velazquez' 
Teppichwirkerinnen. 
Und ein Letztes: Raum, Licht und Farbe erscheinen hier 
noch als Medien, in die die Figuren aufgenommen sind; 
die treffende und sympathische Wirklichkeitswahrneh- 
mung Liebermanns und die kunstvolle und erfreuende 
Malerei sind einander angepaßt; und doch 7 sehe ich 
richtig? - zwischen peiniure und Motiv, zwischen ma- 
lerischem Stil und lkonographie klarfrnoch ein Spalt-Ce- 
zannes Problem der Darstellung. Der Satz: iiDie gutge- 
malte Rübe ist ebenso gut wie die gutgemalte Madonna. 
wohlgemerkt als rein malerisches Produkt. . .1", ist 
nicht nur gescheit und adversativ. Und der Satz: iiAuch 
weiß ich wohl, daß die Darstellung einer Madonna noch 
andere als rein malerische Ansprüche . .. stellt und daß 
sie als künstlerische Aufgabe schwerer zu bewältigen 
ist als ein StillebenrrlischeintdenSpaltzu meinen, doch 
verkennt er ihn. 
Anmerkungen 8 - 15 
' Fllldült Bockholdl. Musikalischer Salz und Orchesterklang irri Werk von 
Heclor Beilibl. in Die Musiklorschung 1979, 122 N . bes. 125 
' Max Liebermann, Die Phantasie ln der Malerei. Schritten und Reden, 
rtrsg. Günter Busch, Franklurl 1975, 511 Unter Abweisung der linearen 
Figurlerurig Flaffaels 
" Zehn Figuren umtaßt auch das kornpcisiiidrlell unvergleichliche Bild wlm 
SChWlmlTlD3dI1tB75 - 7711925. 130 X 255cm: Schweizer Privalbesitz: 
Ausstellungskaialog Nr so). 
" Die Bieistillskizze isl abgebildet In. Karl Scheffler, Max Liebermann. 
München 1922. S. 69. Sie land sich lmAusslellungskalalog bei dem ent- 
sprechenden Bilde (Nr. S9) nachgewresen. 
" Die Farbskiue IS1 abgebildet in' G K., Max LiebermannsSkizzezu den 
Amsterdamer Waisenrnädchen, in. Zeitschrift lur bildende Kunst N. F. 
XII, 1901 , 72, Farbtafel beigebunden. Zum Unterschied ZU jenen Farb- 
studiert, der hier in Anm 4 genannten und der iri der Kunsthalle Bremen 
(1576, 27 X 35 cni, Ausstellungskatalug Nr. 28], handelt es sich bei die- 
ser um Einen rapiden Kcmpositionseniwurl, wohl Aquarell auf Papier. 
In der Kurnpdsltlon wurde die hier urri zwei verringerte Anzahl der Fen- 
sterachsen wieder um eine vermehrt; vor allem aber die Schlußgruppe 
von unten und rechts her knapper vom Blldrand eingelaßt; dadurch ge- 
wann die rapide Schwellung Festigkeit und damit Fülle. 
" Daß ein Eirldriickvori einer Lchangrin-Aullüllrung Liebermann plolllich 
in den Stand 591119, auf Grund derllirlfJahre alteren StudiendasGemäl- 
de auszuluhren, rnuß nicht abgewiesen werden. Martin Geck, Musik 
und Musikleben in Miinchen, Flichsrd Wagner und Ludwig ll ,lf1'Ü911i 
und Michael Petlei. Die Richard Wagner Bühne Künlg Ludwigs ll., Mun- 
chen 1970. s. 32er , teilt mit, daß unterder lntendanz Karl vdn Perlalls 
(1867 D15 1392) 742 Aufführungen Vorl Wagner-Opern slattfariden, dar- 
unter am meisten solche des Lohengrlmnamlich147.ll_ortengrlniß5ü 
vollendet; Münchener Erstaufführung 1558, Neuinszenierung unter 
Mitwirkung Wagners leer; Berliner Erstaufführung 1859; a. a. o. 
SS. 90, 102). 
" Max Liebermann. Die Phantasie in der Malerei, a. a. O. S. 49. 
ß Max Liebermann. ebenda
	        
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