Ohnstreitig wird man Liebermanns Freisturide im Am-
sterdamer Waisenlraus(1l381l82;78.5 x107,5cm;Stä-
delsches Kunstinstitut, Frankfurtf, jenes Gemälde mit
den differenzierten und so charakteristisch getroffenen
Stimmungen junger Mädchen, das der vierunddreißig-
jährige Liebermann aufGrund von Farbstudien, die fünf
Jahre zurücklagen. in München schließlich gemalt hat,
unter dem Gesichtspunkt von Komposition anschauen
dürfen. Man findet eine Figuren- und Gruppenlolge. So
links. anhebendß über dem purpurnen Steinstreifen der
Weglassung eine Dreiergruppe. die Kleider der Mäd-
chen schwarz, die Hauben weiß, vor zwei dunklen
Baumstämmen; dann eine Zweiergruppe, die Kleider
unterhalb der Schürzen schwarz-rot, schwarz-rot und
oberhalb der Schürzen schwarz-rot, schwarz-rot-
schwarzim Wechsel, dieSchürzen und Hauben weiß. so
unter den dunklen, sich neigenden Zweigen und stei-
genden Ästen der Bäume und unterdem lichten Grün ih-
rer Blätter; dann, in der Tiefe und vor der Pforte. wieder
eine Dreiergruppe auseinandergebeugter Gestalten,
unter welchen Rücken an Rücken die zweite Figur der
zweiten Gruppe variiert und die erste der ersten Gruppe
wiederholt ist, die Kleider, Schürzen und Hauben in Rot
und Schwarz und Weiß in kleinen Einheiten und im Lich-
te flimmernd; so zunächstdrei Gruppen von insgesamt
acht Gestalten, in die Tiefe führend. unmeßbarer Di-
stanzen, verunkiärend, entrückend. Dann folgen wie-
derum drei Figuren und Gruppen von insgesamt noch-
mals acht Gestalten, wieder halbwegs in die Nähe füh-
rend, auf die Architektur projiziert und so nun in meßba-
ren Distanzen und in stetigerVergrößerung; zunächst in
derTiefe, neben der Pforte, ein Mädchen sitzend; dann
unter dem dritten Fenster des Seitentraktes drei sit-
zend, zwei vor ihnen stehend; dann zwei am Brunnen
und unterder Lampe; zunächst Schwarz, Rot und Weiß
in kleinen Einheiten in schnellem Wechsel, zuletzt
Schwarz und wenig Rot und dominierend Weiß. Zwi-
schen der zweiten und dritten Gruppe rechts zusätzlich
lost sich ein Mädchen von der Architektur ab, in Rot mit
wenig Schwarz und wenig Weiß, und läuft querüber und
in die Tiefe nach links, einer anderen. die kaum zu se-
hen. nach, dadurch den jenseitigen Bereich leicht
schließend. die ferneren distanzierend. Zuletzt noch-
malsachtGestalten, zunächst zwei unterdem sechsten
Fenster für sich; dann diese zwei auch Flügel und Teil
der großen Schlußgruppe der Komposition aus allen
acht; sie links der stehenden unter dem sechsten Fen-
ster. wie rechts derselben vier unter dem siebten Fen-
ster, samt einer am Boden sitzenden ihnen gegenüber.
der eine sich vorbeugende im besonderen entspricht.
Zwar möchte ich zu einerdurchgängigen Beschreibung
der farblichen Komposition lieber als dieses reichere
und vielschichtigere Werk vorangehende, einfachere
heranziehen. so wDie Arbeiter im Rübenfeldu und irDie
Kleinkinderschuleii. Doch wird man drei Momente zu ei-
ner Beurteilung der Komposition auch jetzt schon her-
vorheben können:
Erstens: Die ihn sehr akzentuierende und ihn abheben-
de Ausgestaltung des Schlusses' der Komposition, der
in diesem Fall gestalten-, bewegungs- und beziehungs-
reich ist und eine ganze Hälfte der Bildfläche füllt; her-
vorgehoben noch dadurcndaß inmitten des Bildes oder
inmitten der Figuren- und Gruppenlolge ein Höhepunkt
fehlt.
Zweitens und damit wirkungsvoll verbunden: Das Phä-
nomen der Schwellung. Dieses besteht darin, daß die
Gestalten von der an der Pforte sitzenden Gestalt an bis
zum Schluß stetig vergrößert werden und näher kom-
men, daß die Gruppen sprunghaft figurenreicher und
stetig platzreicher werden und letztlich durch die Ge-
genübersetzung der Personen auf Bank und Boden
noch volumenreicher. Diese ständige Vergrößerung
und Volumenmehrung wird dank der Projektion auf die
Architektur zurstetigen Schwellung. indem der Bezugs-
grund der Figuren zwischen dem purpurnen Steinstrei-
fen der Weglassung und dem wieder und wieder aufge-
nommenen sandsteingelben Band der unteren Fenster-
rahmung. durch die Pflaster, auf deren zweiten, fünften
und siebten auf die Kanten jeweils auch die aufrechten
0
Figuren projiziert sind, zwar gemessen. nicht aber zum
Stehen gebracht wird. statt dessen stetig wächst.
Drittens: Die Häufung undder schnelle Wechsel der Do-
minanz der künstlerischen Mittel. Das Bild nämlich hat
drei Farlr, Raurrr- undLichtzonen; in deren erster domi-
niertdie Farbe, in deren zweiter der Raum, in deren drit-
terdas Licht. Vornean ist - vom Licht her - diedunkle
Zone, dort fällt kaum. nur an zwei Stellen, Licht auf den
Boden; dort geht - räumlich - der wegfestigende
Steinstreifen querüber, in bezug auf den wie aufdie Ar-
chitektur die Schlußgruppe ab der stehenden Figur,
dem Anblick offen, durch Architektur gehalten, ihren
Platz hat; dort ist - nun farblich - nach dem Rot und
dem geringeren Schwarz und Weiß der Schürzenlosen
und zugleich mitsamt ihnen der reinste, vollste Klang
der Farbe. Schwarz, Weiß. Rot.Tiefer folgt - vom Licht
her - die halblichte Zone mit dem dunkleren Grün des
Baumes oben, den Lichtflecken auf dem Boden unten,
mit den Blättern oben und den Vögeln unten; und dort
sind A nun räumlich - die erste. auch abgehobene
Gruppe des Schlosses. die letzte Gruppe des zweiten
Teiles bei Brunnen und Lampe und die zweite und die er-
ste Gruppe des ersten Teiles ganz links verspannts,
über Kreuz aufeinander bezogen; farblich stehen domi-
nierendes Schwarz und dominierendes Weiß einander
gegenüber und stehen dem Farbakkord Schwarz-Rot-
Weiß in den Hereintretenden Schwarz (links näher) und
Rot(rechts näher) und Weiß(rechtstiefer) isoliert. domi-
nierend inden Stehenden und Sitzenden entgegen. Jen-
seits dieser räumlich querüber verspannten Zone er-
scheint die vom Licht her lichteste. vom Raum her licht-
durchflutete. von der Farbe her lichtflimmernde und -
in der Folge der Räume - entrückte Zone. Die Figuren-
und Gruppenlolge geht in unmeßbaren Distanzen von
der zweiten, räumlichen Zone in die dritte,lichtdomi-
nierte und von der dritten, lichtdominierten aus dem
Lichtflimmernden. immer mehr anschwellend. durch
die räumlich dominierte in die erste farbdominierte zu
diesem farbigen. klaren. behäbigen vollrunden Schluß.
Eine bislang unbekannte Figurenstudie in Öl. Farbstu-
die zu dem am Boden sitzenden Mädchen rechts (wohl
1881l82; Öl auf Leinwand 30 x 37 cm. oben leicht un-
regelmäßig beschnitten; auf Pappe aufgezogen
32 x 39 cm; Privatbesitz; Provenienz: aus dem Atelier
Liebermanns an die Familie des Besitzers):
Da Gelegenheit besteht, diese bisher nicht veröffent-
lichte Figurenstudie bekanntzu machen. sei ihre Erörte-
rung in der hier interessierenden Hinsicht eingescho-
ben. insgesamt sind mit ihr nunmehr sechs Figurenstu-
dien in Farbe für dieses Gemälde bekannt; zwei von die-
sen sind nicht verwertet worden, die anderen nunmehr
vier gelten ausnahmslos Figuren der großen Schluß-
gruppe der Komposition": eine derfünftletzten, stehen-
den Figur; eine der zweitletzten, sich zum Tuch an der
Erde vorbeugenden Figur; eine der letzten, nahenden
Figur; und die neu einzulührende Studie letztlich der am
Boden sitzenden Figur. In dieser Häufung ist das kaum
ein Zufall; es belegt zumindest die Wichtigkeit und
Durchgearbeitetheit des Schlusses als eine Komposi-
tion aus einzeln geklärten Figuren.
Zur Farbgestaltung ist zweierlei zu bemerken. Erstens:
Die Figurwird in dieser Studie nach Schwarz (Kleid, mit
Falten in lasiertemGrau)undWeiß(lasiert: Schürzeund
Kopftuch) geklärt. Noch nicht ist Rot (anderer Teil des
Kleides, im Rücken dunkler und rechts der Hand heller,
und figurnahes Umfeld über dem Nacken, im Gemälde
Kleid einer anderen Figur. dunkler) in die Einheit der Fi-
gur gebildet, es ist zugesetzt; es ist, zumal im Rücken.
auch nicht durchgestaltet; ja bei näherem Betrachten
tritt immerwiederdieTäuschung ein, der schwarze Teil
des Kleides wäre der ganze Rücken und die Figur säße
in entschiedenerem Profil.
Zweitens: Das Umfeld ist merkwürdig, es ist links oben
und unten und rechts oben und unten verschieden, ist
vierteilig, die Teile aber sind untereinander in näherem
Zusammenhang als mit der Figur, ja sie isolieren die Fi-
gur eher in ihre Besonderheit: links oben schwebende,
durchscheinende farbige Graus unter Benützung von
Ocker und vor allem Violett (dieses Violettgrau dichter
auch vor dem Gesicht, oberhalb der und um die Hand);
rechts oben vor-und zurücktretend-bewegliche Farben.
dunkles Graubraun, Grün, Oliv. helles Braun; unten de-
ren Entfaltung links das Dunklere. das Graubraun,
rechts das Hellere, sogar mit Rot über Grau und mit we-
nig Grün. Diese Umfeldfarben in der Figur, Gewand und
lnkarnat. nicht verwandt benützt; deren Farben nicht
nach denselben Gesichtspunkten beurteilbar, unbe-
weglich, unräumlich. nicht scheinend, nicht atmosphä-
risch. nichtgewandelt und entfaltet. sondern dicht. kom-
pakt. material. klar undlest. ein Akkord ausSchwarz und
Weiß. opak und lasierend, durch diesen durchgeführten
kategorialen Entzug, wie es scheint, Farbe. Die Konstel-
lation Umfeld zu Figur bewirkt die Lebendigkeit der
Studie.
Das Umteld ist durchaus im Hinblick auf das Gemälde
durchgestaltet: die weißen Lichter links in halber Höhe,
als Drückeraufgesetzt, kehren als Lichtflecken aufdem
Boden, auch die Graus hinter und unterhalb der Figur
anders gebrochen. wieder; und das Rot oberhalb des
Nackens wird Kleid einer weiteren Näherin. Anderes
wird noch geändert: das Rot jenseits der Beine wird
durch Nahwerk ersetzt; die Gruppe trennenden und bin-
denden Tücher am Boden vornean sind noch nicht vor-
gesehen.
Ein Drittes sei angemerkt. welches nuram Ende meiner
Studie gestreift wird: das Sitzen als Körpermotiv. Kör-
perbewegung ist nicht durchgestaltet: zuletzt noch wur-
de die Figur mit einem breiten Streifen Ocker, mehr Vio-
lett (im Gemälde dann purpurner Steinstreifen), von un-
ten etwas abgedeckt und zurückgedrängt. Und auch der
Eindruck von Leichtigkeit und Anmut wird durch Zuset-
zen von etwas Blau zwischen den Händen und im Hemd-
rand im Rücken und im Kopftuch hinten (das Kopftuch
vorn ist violett) erzeugt, nicht in der Figur gestaltet und
durchgestaltet, wird als Schimmer von außen zugege-
ben (die lnkarnatfarbe ist stets fest opak). Anders ge-
sagt. die Figur istTrägereiner material-festen Farbkom-
position; nicht ist diese deren durchdringende Darstel-
lung. Doch: Ich gehe vorerst über zu den einfacheren
Bildern. Beispiel für Beispiel zu komplizierteren Lösun-
gen fortschreitend.
DieArbeiterim Rübenfeld0876; 98,8 x 209cm; Nieder-
sächsisches Landesmuseum, Hannover)des Neunund-
zwanzigjährigen: Acht Figuren sind nebeneinander und
nach rechts leicht in die Tiefe gereiht; eine neunte Figur
folgt abgehobener und weiter vorn. Die Reihe der acht
ist gegliedert in zweimal vier: die erste Figur wird in der
fünften wiederholt. die zweite und sechste sind aufge-
richtet, die dritte und siebente gebeugt, die vierte wird
in der achten variiert; auch die neunte Figur. abgehobe-
ner und weitervorn. variiert die erste. die fünfte und ent-
spricht zugleich der achten, zusammenfassend. Die
vierte kehrt der fünften Schulter und Rücken, die Vierer-
einheiten leicht sondernd. sie ist der ersten symme-
trisch, so die erste Hälfte beschließend; wie die neunte
alle beschließt; die zweite Hälfte der Reihe bleibt schwe-
bend offen. Beide Hälften enden mit einem Mann. Ein
Höhepunkt in der Mitte des Bildes oder der Figurenfolge
ist nicht ausgebildet. Farblich sind zu unterscheiden:
der grünlich-bräunliche Ton der Erde als Grund und die
isolierte Farbe Grün des Krauts im Feld vornean; räum-
lich undfarblich dazwischendie Figurenreihe. Das Feld.
die Erde und die Figurenreihe sinddreimal miteinander
verbunden: zweimal vom Grund herdurch die Baumrei-
he. die Reihe der Figuren fixierend. dem Stehen der
zweiten Figur zumal als Widerlager dienend. und den
Heuhaufen. der Reihe und zumal der achten wie der
neunten Figur als Rückhalt dienend; und nach vorne zu
durch die neunte Figur, die vorgekommen.
Diese Disposition und kompositionelle Fügung laßl nun,
wie ein Lufthauch belebend über die Felder geht, eine
dreifache Bewegung spüren. Erstens: Die Figurenreihe
der acht. zwischen Ton und Farbeund derfiguralen Glie-
derung entsprechend auch farblich gegliedert, geht
vom Farblichen ins Dunkle; der Schurz der ersten Frau
ist bläulich, ebenso der der zweiten. das Halstuch, drei-
eckig. über den Schultern der dritten und die Hose des
vierten; diese Farblichkeit in den ersten vierwird abge-