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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXVIII (1983 / Heft 188)

Zu den rarsten. wenn auch wenig beachteten Stücken 
der Wiener Akademiegalerie zahlt ein altniederländi- 
sches Leinwandbild. das die Weissagung der Tiburtini- 
schen Sibylle an Kaiser Augustus darstellt.' 
Flar istdieses Gemälde deshalb. weil es zu den wenigen 
erhaltenen Exemplaren seiner Gattung gehört. Relativ 
unbeachtet blieb es wohl wegen seines wenig anspre- 
chenden Erscheinungsbildes: matte Oberfläche. ein 
düsteres. unbuntes Kolorit, weiters eine nicht leicht les- 
bare Komposition. 
Eine Eigenart des Bildes fällt sofort insAuge. noch ohne 
daß man sich mit den näheren Bildzusammenhängen 
vertraut gemacht hat. Zwei Motivzitate nach prominen- 
ten Vorbildern sind in der Komposition verarbeitet wor- 
den. Details, die über bloß zufällige Ähnlichkeit hinaus- 
gehen: Das Madonnenbild der Erscheinung am Himmel 
gibt Dürers Madonna auf der Mondsichel nach einem 
Kupferstich aus dem Jahre 1508 wiederz. womit ein 
terminus post quem für die Datierung des Bildes gege- 
ben wäre. Die beiden Rückenfiguren auf der Brücke im 
Mittelgrund mit Blick auf eine Flußlandschatt paraphra- 
sieren Jan van Eycks bekanntes Mittelgrundmotiv aus 
der itFiOllftrMiidültflarti 
Das iiSibyllentüchleinu der Akademiegalerie gibt in vie- 
lerlei Hinsicht Fragen auf. Es sei vorausgeschickt. daß 
jene Fragen nach Zuschreibung. möglichen Vorbildern 
der Komposition, nach den unmittelbaren ikonographi- 
schen Voraussetzungen für die Themengestaltung in 
vorliegender Form kaum alle befriedigend beantwortet 
werden können. Uns geht es darum. allein die Bezugs- 
punkte einer stilistischen und ikonographischen Beur- 
teilung zu benennen und die möglichen. mitunter auch 
hypothetischen Zusammenhänge zur Diskussion zu 
stellen. 
Von Interesse sind drei Fragenkomplexe. Wie schon er- 
wähnt. handelt es sich beim Wiener Sibyllenbild um ein 
iiTüchlii. Dürers Bezeichnung für Leinwandbilder in 
einer Zeit. die die Holztafel als Bildträger noch 
favorisierte ' Das für den Erscheinungscharakter sol- 
cher Leinwandbilder Wesentliche war die Besonder- 
heit. daß mit Temperafarbe auf unbehandelte. das heißt 
ungrundierte Leinwand gemalt und auf abschließendes 
Firnissen verzichtet wurde. Damit läßt sich dieSichtbar- 
keit der Gewebestruktur. die matte Oberfläche sowie 
die stumpfe Farbigkeit erklären. Wie aus Quellen der 
Zeitüberliefert. wardieserOberflächenzustand bewußt 
intendiert, um einen textilen Eindruck zu erzeugen, da. 
wie es heißt. diese Leinwandbilder als Ersatzprodukte 
für Tapisserien gefragt waren? 
So hat das lisibyllefliülihlßlllit auch vorwiegend in Re- 
stauratorenkreisen lnteresse geweckt. zur Frage näm- 
lich. wie solche rare. den zerstörerischen Umweltein- 
flüssen viel stärker ausgesetzte Leinwandbilder des 
16. Jahrhunderts erhalten und regeneriert werden kön- 
nen." Der heutige düster-gedeckte Gesamtton der Ma- 
lerei. den keinerlei Buntfarben aufhellen. entspricht kei- 
neswegs dem ursprünglichen Zustand des Bildes. Die 
schwärzliche Farbe des Himmels und der Architektur- 
kulissen ist ein Resultat chemischerVeränderungspro- 
zesse der ehemals blauen Farbe. Schmale F-tandstrei- 
fen der Leinwand. die seit aiters vom Rahmen abge- 
deckt waren. zeigen noch heute leuchtend bunte Far- 
ben. Es kanndavonausgegangenwerdendaßderFarb- 
charakter des iiSibyilentüchieinsir den koloristischen 
Usancen des ersten Viertels des iö. Jahrhunderts 
durchaus entsprochen hat. Vorstellungen davon haben 
sich an der - gefirnißten - Tafelmalerei zu orientie- 
ren. Der heutige Farbzustand der Leinwand kann je- 
dochzurBeurteilungnichtmehrherangezogenwerden. 
Zum zweiten ist es lohnend. das Darstellungsthema. 
namlich das vAra-Coeliu-Wunder, ikonographisch zu 
verfolgen. Es gehört zu jenen Themen. deren Bildfas- 
sung in ihren frühesten Formen als Teil eines typologi- 
schen Darstellungssystems auftritt und anscheinend 
erst spät den Schritt zur eigenwertigen Einzeldarstel- 
lung gemacht hat. Als textgeschichtliche Quelle ist ne- 
ben dem iiSpeculum humanae salvationisii vor allem die 
iiLegenda Aureaii heranzuziehen. Wo innerhalb der iko- 
2 
2 
nographischen Entwicklung die vorliegende Darstel- 
lung ihren Platz haben könnte, wird im folgenden eben- 
falls zu prüfen sein. diese Frage ist auch in stilistischer 
Hinsicht nicht unwichtig. 
Stilistische Wertung und Einordnung ist der dritte Pro- 
blemkomplex.zu dem imtolgendenAnsätzezueinerLo- 
sung geboten werden sollen. in bezug auf die kunstge- 
schichtlicheEinordnungdesWienerTiJchleinsistzube- 
merken. daß es nicht in Friedländers Anthologie deralt- 
niederländischen Malerei aufscheintj Dies hat unter 
anderem dazu geführt. daß es bis heute keinen Platz in 
der stilgeschichtlichen Diskussion der niederländi- 
schen Malerei des frühen 16. Jahrhunderts erhalten 
hat; wenn lnv. Nr. 568 in der Forschung Erwähnung 
findet". dann marginal und mit divergenten Stellung- 
nahmen. 
Resümiert man das bisher in der Literatur dazu Gesag- 
te. so reduziert sich dies auf die Frage holländisch oder 
tlämisch. schwankt die Stilbestimmung zwischen Lei- 
dener Schule und Antwerpen. Ludwig Münz vertrat zu- 
letzt nachdrücklich die Zuweisung an Cornelis Enge- 
brechtsz auf Grund von stilistischen Überlegungen; an 
dieser Zuschreibung wurde bis heute mit Vorbehalten 
festgehalten." Robert Eigenberger dagegen brachte in 
der Münz vorausgehenden Publikation die lnv. Nr. 568 
mit derGruppederAntwerpenerManieristen desersten 
Viertels des 16. Jahrhunderts in Zusammenhangfu 
Diese Gruppenbezeichnung subsummiert bekan 
verschiedene. nurstilkritisch greifbare undzume 
Notnamen versehene Malerpersönlichkeiten Ar 
pens. denen ein insgesamt noch gotisierend-n 
ristisches Stilidiom zu eigen ist. versetzt mit romai 
ten Renaissance-Einflüssen.dieabernichtsostar 
Tragen kommen wie in holländischen Malsohulei 
spielsweise der Leidener. 
Der Zuweisung Eigenbergers des Wiener Tüchle 
das Antwerpener Stilmilieu schließen wir uns a 
stützt auf Beobachtungen von konkreten Stileige 
lichkeiten. die sich mit einer spezifischen Hand a 
nem Manieristenkreis in Verbindung bringen las: 
DenStilcharakterdesWienerGemäidescharakte 
eineextremevertikalisierung der Komposition uni 
Einzelformen; dies gilt gleichermaßen für die Fi 
wie für die Architekturdarstellungen. Auf einer r 
Raumbühne sind die Beteiligten des Geschehe 
zwei Gruppen geschieden, wodurch für den Ausb 
die Raumtiefe eine Gasse frei bleibt. Der Kaiser l' 
Regalien vor sich auf den Boden gelegt und knieti 
der Seherin. die ihn auf die wunderbare Ersche 
der Madonna in der Aureole am Himmel hinweis 
hinter unmittelbar anschließend und am Gescl 
unbeteiligt stehen dicht gedrängt die Damen des i 
ges der Sibylle vor dem Portal eines Hauses. au: 
sie gerade getreten zu sein scheinen. Ihnen gege
	        
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