iiDie verlorenen Österreicher 1918- 193514. Im Kata-
logvorvvort wi rd kein Zweifel zugelassen. daß es sich bei
expressivem künstlerischem und selbst bei ähnlich
strukturiertem wissenschaftlichem Verhalten um
nichts weniger als um eine österreichische National-
eigenschaft handeltf Weil in der österreichischen
Kunst eine Kontinuität im Expressiven konstruiert wer-
den kann, wird ohne Rücksicht auf anders geartete
künstlerische und intellektuelle Phänomenebehauptet.
daß nExpression-r der eigentliche Leitfaden der künstle-
rischen Entwicklung dieses Landes sei. Zur Definition
dieses Begriffes wird angeführt, daß sich diese Eigen-
schaft "in einer latenten In-Frage-Stellung aller wie im-
mer gearteter existentiellervorgängerr äußere; sie stel-
le sich vals eine Folge innerer Verletzbarkeitrr dar und
bestehe "aus einem Überschwang an Gefühlen und
Empfindungen, die von überdirnensionalem Ausdruck
lebenrr. Durch das Aufzeigen dieser angeblich spezi-
fisch österreichischen Verhaltensweise sollte die Aus-
stellung unter Beweis stellen, daß wbeim Schaffen von
Kunst die nationalen Empfindungen und Verwurzelun-
gen die primären Träger sindir ( !). Denkt man diese ver-
allgemeinernden Aussagen konsequent weiter. dann
weisen sie den Weg zu staatlich festgelegten Richtli-
nien für das Aussehen künstlerischer Gestaltungen mit
österreichischem wGütesiegelk. Es handelt sich bei die-
ser historischen Sicht nicht um das Ergebnis einer indi-
viduellen Geschichtsinterpretation desAut0rs. sondern
sie ist vielmehr Ausdruck einer durch mangelhafte
kunstwissenschaftliche Aufarbeitung bestimmten Vor-
stellung vom künstlerischen Schaffen Österreichs; sie
wird mehr durch unkritisch tradierte Klischees geprägt
als durch seriöse interdisziplinäre Forschungj Die mit
den nNeuen Wildenrr ll'l engem Zusammenhang stehen-
de Diskussion um den riRegionalismusr in der Kunst der
achtziger Jahre ist nur eine der neuesten, negativen
Auswirkungen diesereindimensionalen Einstellung.die
dazu führt. daß an den entscheidenden Phänomenen
dieserneuen Kunstvorbeigesehen wird. Dievorgepräg-
te Struktur der aufgesetzten vExpressionismus-Brllleir
verstellt den Blick auf das komplexe Geschehen in
Österreich.
Friedrich Kiesler ist sicherlich einerder bedeutendsten
österreichischen Künstler der Zwischenkriegszeit. Sei-
ne Arbeiten werden weder durch rrDepressionenir noch
durch vinnere Verletzbarkeitc bestimmt, sondern viel-
mehr durch eine Aufbruchsstimmung geprägt. die ein
Kennzeichen der konstruktivistischen. experimentell
und gesellschaftskritisch eingestellten. fortschritts-
gläubigen Avantgarde dieser Jahre ist. Im Katalogvor-
wort zu der von Kiesler 1924 organisierten iilnternatio-
nalen Ausstellung neuerTheatertechniku heißt es in die-
sem Sinne programmatisch: wDie schöpferische Ju-
gend bleibt in Projekten stecken. befriedigt sich mit Plä-
nen. Mansardenillusionen. Das Publikum will Realitä-
ten. ll faut quitter les mansardes sacerdotales! Genug
der Projekte. Wir brauchen Wirklichkeiten. II faut des-
cendre des piedestaux futuristes. expressionistes. cu-
bistes. constructivistes. mystiques, naturalistes. ab-
stractes etc. L'art a demobilise. Que faire? VIVREM!
Keine Spur von einer pessimistischen, resignierenden
Einstellung ist hier zu spüren, sondern die Überzeu-
gung. durch künstlerische lnitiative in das nLebenir. das
heißt in die Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklich-
keit eingreifen zu können und zu müssen.
Kieslers Worte spiegeln eine Grundhaltung wieder. die
auch für andere Wiener Protagonisten des künstleri-
schen und geistigen Aufbruchs dieserJahre charakteri-
stisch ist. Zu den interessantesten und wichtigsten Per-
sonen dieses Kreises zählt der Kunsthistoriker Hans
Tietze. Es gehört zu den großen Versäumnissen in der
kunsthistorischen Aufarbeitung der Zwischenkriegs-
zeit, daB seine Bedeutung für die Rezeption der moder-
nen künstlerischen Tendenzen in Wien bis heute fast
gänzlich unbekannt geblieben ist. Sowohl durch theore-
tische Schriften als auch durch zahllose Kunstkritiken.
vor allern aberdurch die Tätigkeit als AusstelIungsorga-
nisator ist er in den zwanzigerJahren zu einer zentralen
Persönlichkeit im Wiener Kulturleben geworden.
Tietze beobachtete das Geschehen in Wien sehr genau
und berichtete darüber laufend in der in Berlin erschei-
nenden Kunstohronik. deren Mitherausgeber und Kor-
respondent er war. Kritisch vermerkt er in einem 1923
verfaßten Kommentar. daß sich die Wiener Ausstellun-
gen durch besondere Dürftigkeit auszeichneten, die
Vereinigungen kein Geld hätten und die Künstler nur
den einmal gefundenen Stil variierten? Doch im Ge-
gensatz zu vielen seiner Kollegen beschränkte sich Tie-
tze nicht auf solche mißbilligende Äu ßerungen. sondern
er ergriff selbst Maßnahmen. um verändernd aufdie als
unproduktiv erkannte Situation einzuwirken. Er organi-
sierte Ausstellungen internationaler Kunst. in welchen
erder quantitativ zweifellos dominierenden repetitiven
österreichischen Kunst die aktuellsten Entwicklungen
aus Ost- und Westeuropa entgegenstellte. Damit ver-
folgte er das Ziel. Wien an das internationale Gesche-
hen anzubinden. Fast überall. wo es damals in dieser
Stadt um Fragen der neuesten Kunstströmungen ging.
warer in irgendeiner Form mitdaran beteiligt. Tietze en-
gagierte sich. obwohl ihm bewußtwar. daß ergegen den
übermächtigen Strom der konservativen Wiener Gesin-
nung anzukämpfen hatte."
Als Instrument für diese Aufgabe rief Tietze 1923 zu-
sammen mit einer Gruppe Gleichgesinnter die iiGesell-
schaftzur Förderung moderner Kunstrr ins Leben, in de-
ren Rahmen bis in die frühen dreißigerJahre eine Reihe
national wie auch international bedeutender Ausstel-
lungen stattfinden konnten." Die Gesellschaft rwurde
in SammIer- und Kunsthistorikerkreisen gegründet. um
vor allem derschädlichen Absperrung und Einsperrung
entgegenzuarbeiten. die jede Auseinandersetzung mit
außerösterreichischer Kunst seit fast einem Jahrzehnt
unmöglich machtrl, schrieb Erica Tietze-Conrat damals
in der Kunstchronik." In einem Flugblatt. das der Mit-
gliederwerbung diente. wurden die progressiven Ziele
dieser Vereinigung noch deutlicher formuliert: itDie Ge-
sellschafter. heißtes dort. wstrebtdie Zusammenfassung
aller lebendigen Kräfte Wiens auf künstlerischem. mu-
sikalischem, literarischem Gebiet an; sie will die Ein-
heitsfront aller herstellen. für die die künstlerische Kul-
tur nicht eine Frage der .Richtung' oder der Partei ist,
sondern eine Frage der Lebendigkeit und der Quali-
tätrr" Diese Aussagen sind Ausdruck einer gegen-
wartsbezogenen aber auch für zukünftige Entwicklun-
gen offenen Haltung und sind in ihrer Stimmung der
oben zitierten Erklärung Friedrich Kieslers verwandt.
Tietzes Engagement führt ihn aber nichtzu einem bedin-
gungslosen Bejahen des gerade Modernsten. sondern
er bleibt den Werken gegenüber kritisch. Seine Einstel-
lung wird weniger durch ein Interesse an den formalen
Ergebnissen. sondern vielmehr durch eine Affinität zu
den inhaltlichen. ideologisch bestimmten Aspekten der
neuen Kunstrichtungen bestimmt. Zur Klärung von Tie-
tzes Verhältnis zu den konkreten Erscheinungsformen
der durch ihn geförderten Kunstrichtungen tragen zwei
Kommentare zum Werk des 1920 nach Wien emigrier-
ten ungarischen Malers Beta Uitz bei. Erschreibt zu den
bereits im ersten Jahr seines Wienaufenthaltes in den
Räumen der Künstlergruppe riFreie Bewegung-r gezeig-
ten figuralen, expressionistisch und sozialkritisch be-
stimmten Kompositionen folgende Sätze: wDaß hier Le-
benswerte gesprengt werden. sagt mir meine innere Er-
fahrung:aber ich weißnichtobes möglich und nötig ist.
sie in den alten und engen Begriff der Kunst hineinzu-
pressen. Das ganze Kulturproblem unserer Zeit steckt
hierinßr" Drei Jahre später stellt Tietze Bilder von Beta
Uitz im Rahmen der wGesellschaftri aus. Zu den nun rein
geometrisch aufgebauten konstruktivistischen nAnaly-
senu(Abb.1Sischreibterineinemähnlichen Sinn: "Beta
Uitz gehört zum GeschlechtderZukuntt. vielleicht nicht
wegen seiner Malerei. aberweil erden Mut hat. auch oh-
ne Besinnen das Gebiet der Kunst zu verlassen. wenn
sein Gewissen als Künstler es ihn heißtxr" Diese und
auch andere Aussagen des Kunsthistorikers lassen er-
kennen. daß sich sein Engagement vor allem an
menschlichen und gesellschaftspolitischen Aspekten
derneuen Kunstrichtungen entzündet. er aber zu keiner
theoretisch ausreichend abgesicherten Erweiterung
seines Kunstbegriffes findet. Daraus resultiert eine in
vielen Texten spürbare Spannung zwischen dem vollen
Einsatz fürdievielfaltigen Facetten des aktuellen künst-
lerischen Geschehens und einer unsicheren und bis-
weilen skeptischen Haltung gegenüber den mit revolu-
tionärem Gedankengut eng verknüpften Ergebnissen.
Die schwierigen Verhältnisse. unterwelchen Tietze sei-
ne Förderungsmaßnahmen setzte. kommen in einem
Satz zum Ausdruck. der ebenfalls der Besprechung der
zweiten Ausstellung von Bela Uitz entnommen ist: iwDie
Aussfellungrr. schreibt er. nist eigentlich nur für die Mit-
glieder der Gesellschaft bestimmt. wer sie sonst be-
sucht. kommt als deren Gast, eingeladen nicht zu kriti-
sieren und besser zu wissen. sondern sich miteinerpro-
blematischen Erscheinung ernsthaft und höflich aus-
einanderzusetzen." Mit solchen an das Publikum ge-
richteten Vorschriften stand Tietze damals nicht allein,
sondern er orientierte sich offensichtlich an ähnlichen
Verhaltensregeln. die Arnold Schönberg einige Jahre
vorher für die Besucher der Musikveranstaltungen er-
lassen hatte, die im Rahmen des wrVereines für musikali-
sche Privataufführungenrr abgehalten wurden.
Zu den bedeutendsten Wiener Ausstellungsprojekten
der zwanziger Jahre gehört die von Tietze im Rahmen
der i-Gesellschaftrr organisierte wlnternationale Kunst-
ausstellungir. die anläßlich des Musik- und Theater-
festes derGemeinde Wien im Herbst 1924 in der Seces-
sion stattgefunden hat (Abb. 1. 2). Diese umfangreiche
Zusammenstellung zeitgenössischer Kunstwerke wur-
de iizur Befestigung Wiens als internationales Kunst-
zentrurnu unternommen und sollte dem wWiener Kultur-
leben ... eine möglichste Fülle von Anregungen
bietenrl."
Den internationalen Stellenwert dieserAussteIlung ver-
sucht Hans Ankwicz-Kleehoven in einer ausführlichen
Besprechung in der Wiener Zeitung vom 18. Oktober
1924 durch einen Vergleich mit Venedig zu charakteri-
sieren: nWer heuer die XIV. Internationale Kunstaus-
stellung derStadtVenedigbesucht hat, . . .erlebt...eine
große Enttäuschung. Denn faktisch war es - Sowjet-
rußland und das sehr fortschrittlich gesinnte Holland
ausgenommen - nur eine Massenversammlung von
teilsunbedeutenden.teilskunstgeschichtlich Iängstge-
eichten Künstlern. die aber nichts Neues zu sagen hat-
ten... War die venezianische ,Internationale' vorwie-
gend konservativ orientiert. so ist die Ausstellung in der
Secession mit voller Absicht einseitig auf die radikalen
Strömungen eingestelltß
Tietze trug 180 Bilder und Plastiken ausganz Europa zu-
sammen und gewährte damit einen Überblick, wie er
seither in Wien kaum mehrzu sehen war und dermit Ber-
lin und Paris durchaus in Konkurrenz treten konnte: Pi-
casso. Braque. Klee, Lissitzky, Archipenko. Kandinsky.
Mondrian.Chagall. Leger. Naum Gabo. Beckmann. Dix.
Kokoschka und viele andere Maler und Bildhauerwaren
in der Secession durch ausgesprochen repräsentative
Werke vertreten.
Natürlichfanddie moderne Malerei und Plastik nichtun-
geteilte Zustimmung in der Öffentlichkeit. In der Neuen
Freien Presse vom 28. September 1924 bezeichnete
der Kritiker L. Hirschfeld das in der Secession Gesehe-
ne als bLäChkabifleltfl und als ilpermanentes Gschnas-
festrr, Naum Gabos heute so berühmten Kopf (Abb. 1)
beschrieb er spöttisch als ein aus v-Zelluloidstanitzeln
kunstvoll gedrehtestr Objekt. Solchen absolut verständ-
nislosen Kommentaren stehen aber ausführliche. sach-
lich gehaltene Besprechungen gegenüber. deren Auto-
ren bemüht sind. die Leser für das Ungewöhnliche und
Neue an diesen Ausdrucksformen der Kunst zu interes-
sieren. Wie bei Tietze selbst. so begründet sich die
grundsätzlich positive Einstellung in Beitragen von
Alfred Makowitz. Hans Ankwicz-Kleehoven oder Otto
König" auf der Überzeugung. daß die GestaItungswei-
sen einer Epoche als Reflex der gesellschaftlichen Si-
tuation aufgefaßt werden müssen. In diesem Sinne wer-
den die extremen Erscheinungsformen derzeitgenössi-