Jost Schäfer
Historisches bei
Robert Rauschenberg
1 Ftobert Rauschenberg, wCharleneu, 1954. Öl, Papier. Stoff,
Holz, Metall auf Heizplatte. 226 x 284 cm. Amsterdam. Ste-
delijk Museum
2 Robert Rauschenbsrg, nEarth Day 22, 1970m. Collage (Vor-
lage für Plakat der American Environment Foundation),
101,6 X 75,9 cm
3 Robert Rauschenberg. vCurrents Collagen-r, 1970. Eine
Reihe aus 28 Zeitungs- und Fotocollagen, Transferdruck,
Gouache, jeweils 76,2 x 762 cm. Privatbesitz R. Rauschen-
berg
Anmerkungen 1 - 6
' Vgl. Wißmann, J.: Collagen oder die Integration von Realität Im Kunst-
werk, lrl: Poetik und Herrrleneutik, München 1966. S. 327 - 360.
1 Ohne diesen Illustrailonscharakter selnerArbeiten wären auch die Bil-
der zu Dantes Inferno nicht lTlÖgliCh gewesen, mit denen er die Illarari-
Scrle Vorlage illustrierte; Vgl. Liebermanrl, W.S I Die Illustrationen Zu
Dantes Inferno, irY Katalog Rauschenbsrg, DLisseldorIIBerlln. 1980.
S. i 18 ff.
1 Rauschenberg nach: Seckler, D. G. The artist speaks: R. Rauschen-
berg, in. Art in Amsrica S4l3, 1966. S. 73 l.
' Ebd. S. B1.
i Vgl, Davis, D." Strnng Currerlt. in: Katalog Hauschenberg, zil. Anm. 2,
S. 93 N.
- Die Prulestderrlonslratlon von x-Earth Dayu _ LLS. mitorganlslert von
Senator E. Kennedy - richtete sich gegen dlE Verschmutzung von um
und Wasser durch die Industrie. in der Presse wurde uEarth Daya durch
andere politische Ereignisse. bes solche. GIB im Zusammenhang rrlit
dem Vietnam-Krieg standen, etwas an den Fland gedrängt und ironi-
siert So schrieb der l-HeraldTriburleu am 24. April, also zwei Tage spa-
ter, lnalnerRandglosse: IEARTH DAY IN NEWYORK -Everybodytolk-
ed about pcllulion yesterday - Earth Day- but the air hers was more
pollutadthanusuaLTha Air ResourcesAdrninislrl-zllon saidthatair pollu-
tion rose tc Mnsatislactorily high leveis' because ot 'Iow winds during
the morning'. The readlng were: sulrur dioxide 12 parts per rrlilllon . . 1
Beikaumeinem zweiten KünstlerunseresJahrhunderts
hat das Belanglose, dem Alltag abgelegte und Ver-
brauchte solch Ieidenschaftliches Interesse geweckt,
wie bei Rauschenberg. ZahlreicheEnvironments, Colla-
gen und Combines usw, die seit den 50er Jahren ent-
standen sind, weisen eine bunte Vielfalt gefundener
Gegenstände auf, an denen sich ihr Gebrauchscharak-
terebensowieihre Herkunftwiderspiegeln(l-Charlenew,
1954).
Dieses Interesse am Alltäglichen in der Kunst ist natür-
lich nicht neu. Die Neugier an Dingen, die uns täglich
umgeben, mit denen wirganz selbstverständlich umge-
hen und die Auskunft über unser Milieu erteilen, spricht
sich in der neuzeitlichen kunsthistorischen Tradition
schon zu Beginn der Stillebenmalerei aus und findet
ihren ersten Höhepunkt in der Malerei des 17. Jahrhun-
derts. Unter den veränderten Vorzeichen des 19. Jahr-
hunderts untersuchte vor allem Manet das großstädti-
sche Alltagsmilieu und stellte dessen psychologische
Auswirkungen auf das bürgerliche Dasein dar. Der -
bei Manet oft vereinsamte - Mensch in seiner Um-
gebung tritt als Darstellungsthema in der Kunst des
20. Jahrhunderts fast vollständig zurück. An seiner
Stelle finden sich seit den rlready madesr Duchamps
immer häufigerdie von Menschen selbsterzeugten und
zweckdienlichen Produkte. Ihnen gilt von nun an immer
stärker das Augenmerk der Künstler. und in ihrer Form
nimmt der Alltag in der modernen Kunst Gestalt an. Sie
übernehmen in ihrer physikalischen Vorhandenheit
geradezudie Statthalterschaftdes traditionellen illusio-
nistischen DarstelIungsmodus' und bezeugen in die-
sem Sinne das Dasein des Menschen in seiner moder-
nen Lebenswelt.
Unter dieser Perspektive teilt Rauschenberg seine
Grundhaltung mit anderen Künstlern verschiedenster
Provenienzen, unterscheidet sich von ihnen aber durch
seine besondere Motivwahl, seinen Gestaltungsvcr-
gang und seine künstlerische Zielsetzung. So etwa
- um nur zwei Persönlichkeiten zu nennen - von
K. Schwitters, der den Abfall der Zivilisation sammelte,
um dessen schöne Seite sichtbar zu machen' (nMBYZ-
bild 25 An). Oder von Andy Warhol, der wie ein lebloser
Automat auf die 7 vor allem - medial geprägte Welt
reagiert, um ihr mit Ihren eigenen Mitteln die visuelle
Konsumierbarkeit und Allgegenwart Ihrer eigenen
Erzeugnisse rücksichtslos vor Augen zu führen (nBrillo
Boxesw, 1964).
Demgegenüber hält Rauschenberg an der Originalität,
an der Einmaligkeit der an Ort und Zeit gebundenen und
von ihm gesammelten Gegenstände fest, deren Aus-
wahl zwar auch nach den Gesichtspunkten des bild-
kompositionellen Aufbaues fällt, deren Funktion aber
gleichwohl weniger im ästhetischen Wirkungsbereich
liegt als vielmehr in ihrer Wiedererkennbarkeit." Damit
tragen sie einen besonderen Anteil an der prosaischen
Aussage eines Bildes. Nach Rauschenbergs eigenen
Vorstellungen sollen sie denn auch nicht zu einer "illu-
stration of my will, but more like an unbiased documen-
tation of what I observedr" beitragen. Demnach läßt
sich seine BildweltintentionellalseineArtd0kumentari-
scher Rechenschaftsbericht über die eigene, extrover-
tierte Existenz in deralltäglichen Umweltverstehen. Die
Materialien in einem Bild sind dabei einerseits an den
jeweiligen Zeitraum des persönlichen Erlebens ge-
knüpft, in den sämtliche Aktivitäten des Wahrnehmens,
Auseinandersetzens, Auswählens. Sammelns, Gestal-
tens etc. eingehen. Andererseits tragen sie auch ihre
eigenen Schicksalsspuren, die der tägliche und oft bei-
läufige Umgang mit ihnen hinterlassen hat.
So fließt der alltägliche Erlebnisbereich in die Zeit einer
Bildentstehung Rauschenbergs mitein, dieer häufig mit
nur sparsam gesetzter, freier Malfaktur kompositorisch
abschließt. Damit setzt er sich zugleich vom wAbstrak-
ten Expressionismusu ab, der seine Bildsprache allein
aus dem spontanen - und in der Spontanität kontrol-
lierten - Aktionssystem von Künstler - Farbe - Lein-
wand zu beziehen sucht. Der Aktionsradius Rauschen-
bergs dagegen dreht sich nicht allein um den
Gestaltungsakt als Quelle künstlerischer Inspiration
und Kreation, sondern um das Dasein als seiner eige-
nen historischen Existenz, die sich an den Spuren frem-
der Existenzen, von Ereignissen und Ereignisketten
reibt, diese Spuren sammelt und in iedereinzelnen Bild-
gestaltung jeweils neu dokumentarisch festhält.
II
Sein Interesse an alltäglichen Handlungen, Aktionen
und Erlebnissen, deren nur scheinbare Belanglosigkei-
ten durch seine Beschäftigung zu bedeutsamen Zeu-
gen gegenwärtigen menschlichen Daseins werden,
scheint Rauschenberg darüber hinaus zu keinen weite-
ren Absichten verleitet zu haben: "Mywork was never a
protest against what was going on, it was an expression
cf my own involvementw (t 966).' Doch schon jeder Ver-