der Anatomie werden von Meister H. L. zur Steigerung
eines gewollten wbarockena Empfindens eingesetzt,
dem auch die Natur im üppigen Wachstum ihrer rah-
menden Pflanzenvorhänge. wie etwa beim Breisacher
Hochaltar. sich beifügt. Der hl. Johannes der Evangelist
(Germanisches Nationalmuseum. Nürnberg, Abb. 6)
versteckt seinen Körperganz hinterdem ein Eigenleben
führenden. üppig gesiauchten und in Längs- und Quer-
falten gelegten Gewand. Licht und Schatten bieten sich
auf der Oberfläche einen ständigen Kampf. der dem
seelischen Charakter des am meisten vom Tode seines
Herren betroffenen Jüngers Christi zwischen Leid und
Hingabe entspricht.
Es bleibt hinzuweisen auf den im Werk eines großen
deutschen Malers und Zeichners anzutreffenden NOR-
DISMO, auf die Kunst Matthis Gotthard Neithards.
genannt Grünewald. Ernst Holzinger hat grundlegend
aufden Unterschied der beiden wichtigsten Komponen-
ten der Malerei um 1500 im Werk von Dürer und Grüne-
wald hingewiesenf Er lenkte den Blick auf die Ver-
schiedenartigkeit der Gestaltung von Körper und Raum
in beider Werk.
Grünewald ist der Künstler, der den Raum selbst mehr
interpretiert als den Körper im Raum. S0 meidet Grüne-
wald Achsen. durchwühlt die Oberflächen seiner Figu-
ren mit Nischen, Schluchten und Löchern. Es ist sein
Anliegen, mit seinen Figuren und ihren stürmischen,
ausgreifenden Bewegungen Raumillusion zu schaffen,
mit ihrer Gestik in den Raum hinein agieren zu wollen.
HiermitwillerihrenGefühlenAusdruckverleihen,ihrem
Ausgeliefertsein einem Unendlichen gegenüber Ge-
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stalt geben und ihre Aktionen und ihr Leben, wie es
heiligen Figuren gemäß ist. ins Überirdische steigern.
Grünewalds Heilige tragen wieder jenen Zug der Exal-
tiertheitunddes SchwermutsderderZeitund den Men-
schen entsprach, die in den Regionen Zentraleuropas
wohnten, wo die Natur noch immer bedrohlich sein
konnte.
Grünewalds Werk in Beziehung zu setzen zu dem
Begriff NORDISMO. ist eine ausführlichere Betrach-
tung wert. Es sei hiernureine seinerZeichnungen para-
digmatisch vorgestellt. die Studie zu einem Heiligen im
Walde(Graphische Sammlung Albertina, Wien. Abb. 7).
Die dargebotene. unwirtliche Öde der Landschaft mit
dem zerrissenen Geäst der Baumgruppe, dem ärmli-
chen großflächigen Gewand des Heiligen und seine
demutsvolle Geste drücken gemeinsam mit der betont
unharmonischen Linienführung und der wirkungsvol-
len, kontrastreichen Licht- und Schattendarstellung
eineStimmungaus,diedenSeelenzustanddesHeiligen
beschreiben soll.
Grünewalds Kunst, gewisse Kriterien des Donaustiles
wie Eigenheiten der gleichzeitigen Skulptur schließen
sich zu einer einheitlich definierbaren Kunstsprache
zusammen. Der Zusammenklang formalanalytischer
Betrachtungsweisen mit der Untersuchung histori-
scher geistesgeschichtlicher wie psychologischer
Gegebenheiten bei der Entstehung dieserWerke könn-
ten ein Instrument entwickeln. das den vorgeschlage-
nen BegriffNORDlSMO deutlicher machen kanmalses
diese Skizze am Anfang einer Begriffsbildung ver-
mochte,
Derweg ist offen: Essolltenalso vGedankengängewent-
wickell werden. vsrarr fertige Gedanken anzubielemr
(Maries Sperber).
7 Mathias Grünewald, Studie zu einem "Heiligen im WaIdeM.
Zeichnung. Wien. Graphische Sammlung Albertina
Anmerkung 7
' Ernst Holzinger, Von Kbrperund Raum bei Durcr und Grunewald, m De
artibus upusculaXL. Essays in honorof Erwin Panolsky. New York 196i.
S. 235 ff