Gerd- Dieter Stein
Egon Friedell
und die „Judastragödie"
„Nur ein ganz degenerierter Affe kann auf die
ldee gekommen sein, aufrecht zu schreiten und
nicht mehr bequem auf allen vieren zu gehen..."
(1, 74). Schon aus diesem Zitat geht hervor, wie
außergewöhnlich subjektiv Friedell - aber das in
voller Absicht - seinen riesigen Essay über die
Kulturgeschichte der Neuzeit geschrieben hat.
Bis um 1910 reichen die Vorarbeiten („Ecce
poeta", 1912) zurück. Und daraus erklärt sich
auch der auffallend impressionistisch-aphoristi-
sche Tenor des gesamten Werkes. Erst ab 1927
erschien bei C. H. Beck in München die drei-
bändige „Kulturgeschichte der Neuzeit", die zu
einem großen Bucherfolg wurde (noch 1960 war
eine Dünndruckousgabe laut „Seller-Teller" in
der Wochenschrift „Die Zeit" über Monate hin-
weg das „Sachbuch Nr. 1") und mittlerweile weit
mehr als dreißig Auflagen erreicht hat. Deshalb
ist es auch verwunderlich, daß eine wissenschaft-
liche Auseinandersetzung mit Friedells Werk im
deutschsprachigen Bereich bislang fehlt. Vielleicht
liegt es auch daran, daß sich die Meinungen
über Friedell in zwei Lager teilen: Die einen
bewundern ihn enthusiastisch, die anderen leh-
nen ihn radikal ab. Aber die Diskussion über
ihn, die Philosophen, Historiker, Kunstgeschicht-
ler und Germanisten' gleicherweise miteinan-
der führen könnten, unterbleibt hartnäckig. Man
muß aphoristisch denken, um Friedell lesen und
verstehen zu können. Paintiert werden bei ihm
die Fakten willkürlich zu Schwerpunkten ver-
dichtet. Es ist nichts spürbar von der Rankeschen
Akribie des minuziösen Zusammentragens, um
zu zeigen, „wie es gewesen". Friedell war kein
Positivist. Er war Optimist - im weitesten Sinn
des Wortes. Er glaubte zwar, daß sich die Ge-
schichte der Natur stets wiederholt; die Ge-
schichte der Menschheit hingegen wiederholt sich
seiner Ansicht nach nie. Deshalb suchte er in ihr
auch nicht nach Gesetzmäßigkeiten. Die histo-
rische Kausalität hielt er für restlos unentwirrbar;
zumal - seiner Meinung nach - ein erheblicher
Teil der historischen Wirkungen auch noch un-
terirdisch verläuft. Die Geschichte pflanzt sich
somit nur als „Legende" über die endlose Kette
der Generationen fort. Diese Überlegung traf
sich mit seinem Wunsch, als Philosoph und
Künstler die Geschichte nachzudichten, sie aber
nicht als reiner Historiker in Spiritus zu konser-
vieren.
Friedell sah im „großen Menschen" denjenigen,
der Kultur schafft, der geschichtlich wirkt. Im
Genie sah er den „Extrakt, das Kompendium,
das klare Destillat, die starke Essenz, sozusagen
das Diagramm (edes Zeitalters". Durch das Be-
tonen, das Hervorheben des überragenden Gei-
stes, des genialen Menschen gewinnt Friedells
Geschichtsschreibung anekdotischen Charakter.
Was ich zu erzählen versuche, ist unsere Anek-
dote, unsere Legende von der Neuzeit oder,
wenn man will, ihre Chronique scandaleuse.
Man könnte einwenden, daß für die Lösung
der vorliegenden Aufgabe ein einzelner
Mensch nicht ausreicht, daß niemand auf al-
len Gebieten kompetent sein kann. Da dies
zweifellos richtig ist, andererseits eine derar-
26
l
ln Reinhardts Deutschem Theater, Berlin: Friedell
in der Uraufführung von G. B. Shows „Andraklus
und der Löwe"
tige Arbeit fast unerlößlich ist, so bleik
übrig, als daß sie von einem inkomp
Menschen in Angriff genommen wird?
Man müßte Gewalt anwenden, wollte m:
dell in eine bestimmte philosophische f
einordnen. Er gehörte keiner „Schule" im
lichen Sinne an und begründete auch kt
besaß kein System. „Man könnte ...sag
der Philosoph erst dort anfängt, wo der
damit aufhört, sich und das Leben se
nehmen . . f".
Leidenschaftlich ergriff er Partei für da:
deutete und Unvollständige, für den b:
Willen zum Fragment und Ausschnitt:
Alles Ganze, Vollendete ist eben vc
fertig und daher abgetan gewesen; da
ist entwicklungsföhig, fortschreitend, im
der Suche nach seinem Komplement. V
menheit ist steril?
Seine Ablehnung gegenüber sturer Schu
schaft war geradezu radikal. Er sah nui
künstlerischen Aussage „das organische
des Zeitalters, in dem es geschaffen
Er glaubte, daß die „geistige Geschic
Menschheit in einer fortwährenden Umi
tierung der Vergangenheit" besteht, „t
Leben beginnt, hört die Wissenschaft a
wo die Wissenschaft beginnt, hört da:
auf" (1,14 und 15)t.
Und so ist Geschichtsschreibung für Fried
losophie des Geschehenen" (l, 3).
Egon Friedell (eigentlich Friedmann) wu
21. Jänner 1878 in Wien geboren. Die l
verlief ruhig und unauffällig. Nach dem
des Gymnasiums - er brauchte mehren
wechsel (von Frankfurt bis Wien) und i
läufe, um endlich das Zeugnis der Reifr
halten - und einem kurzen Studium [in
und Heidelberg) schrieb er seine Dokt
„Novalis als Philosoph" (1904). In Wien c
er dann als Kabarettdirektor und Privatgt
der - ähnlich wie Kraus - öffentlich Lt
veranstaltete. Das Vermögen, das er V01
geerbt hatte, ermöglichte ihm, als Schri
Kulturhistoriker und Philosoph zu lebt
Zusammenbruch des Habsburger-Reiches
ihn, nach 1918 als Journalist zu arbeit
seine Kulturgeschichten der Neuzeit c
Altertums befreiten ihn aus seiner fina
Notlage.
Friedell, der in Wien alle Persönlichke
Zeit kannte, war in seiner Heimatstadt at
durch seine schriftstellerische Betätigung
lär geworden. Das hatte er vor aller
seine zahllosen Auftritte als Schauspi
reicht (auch unter Reinhardt in Wien u
lin].
Mit Peter Altenberg und Adolf Laos war
eng befreundet. Alle, die ihn kannten, i
den gütigen und humorvollen korpulente
der so unnachahmlich geistreich und int
zu reden verstand. Diese Methode bes
er, um sein eigentliches Anliegen verw
zu können; Er wollte seine Mitmenscl
seine Umwelt zu kritischem und eigensti
Denken „verleiten".