dominierend werden und somit die Menschen in
die Rolle bloßer Staffage drängen". Friedell
sah für den Dramatiker der Zukunft den Weg
ins Halbe, Unausgeführte, Abgerissene vorge-
zeichnet. Ferner wird auch die Pantomime an
Einfluß bedeutend gewinnen", weniger weil sie
dem Naturalismus" verhaftet ist, sondern weil
„die stumme Handlung sehr oft die vielsagen-
dere Handlung ist"".
Friedell befaßt sich in diesem Zusammenhang
auch mit der „Poesie der Historie". Er geht dabei
von dem Erfahrungswert aus, daß häufig Träume
wesentlich stärker auf den Menschen wirken als
wirkliche Erlebnisse. Seiner Ansicht nach hat das
Erlebnis eine „geringere Realität" als die Phan-
tasie. Die überlieferten Geschehnisse der Histo-
rie haben für uns Charaktereigenschaften des
Traumes, sie stehen im Bereich der Phantasie.
Die zeitgeschichtlichen Entwicklungen, an denen
wir teilhaben, denen wir zusehen, „sind blaß
wirklich"? Die Fülle verschiedenster alltäglicher
Details nimmt der Angelegenheit, die sich ereig-
net, viel der tieferen Wirkung. Den Zeitgenos-
sen fehlt für das Zeitgeschichtliche die Distanz,
da die Nähe und das Körperliche zu „aufdring-
8 Egon Friedell in der Rolle des Gottes Merkur
aus seiner Bearbeitung von Offenbachs „Schö-
ner Helena" für Reinhardts Berliner Kurfürsten-
dammfheater
WIFÖ, geht rrledell GUSTUHTIICH Eln'". I
bedeutet ein „Wunder" eine Naturersch
die wir mit unserer Wissenschaft noch n
gründen können. Hier unterscheidet er 2'
der „DUfCltSCltUÜilSWlSSEDSChCIlWJG und der
Wissenschaft". „Je tiefer eine Wissens:
die Sphäre des Wunderbaren einzudring
mag, desto wissenschaftlinher ist sie. L
Kultur einer Zeit lößt sich an der Zahl de
der messen, die sie exakt nachzuweisen v:
hat. Ein Zeitalter ist um so aufgeklärter,
Rätsel es entdecktw.
Abschließend stellt Friedell die Frage:
sagt Gott dazu?" Gemäß seiner tiefen G
keit fällt die Antwort aus. Er glaubt, d
mand diese Frage „so rein, tief und in
stellt" hat wie Jesus, „und niemand hat
vollkommen beantwortet, für alle Din
Himmels und der Erde, die größten i
kleinsten: für Denken und Handeln, Liek
Hassen, Essen und Trinken, Gebüren ur
ben. Und darum wird, solange Wesen '
serer Art und Anlage leben werden, mit
Recht er und nur er der wahre Sohn
genannt werden"?
Anmerkun en 31-42
i" Ebd., S. B: „Kurz: die kinematographisdie Tedinik auf
das Theater zu übertragen, wäre eine der Aufgaben des
Dramatikers der Zukunft."
" Ebd., S. 9B.
13 Ebd., S. 98.
"Ebdv S. 98, In diesem Zusammenhang heißt es weiter:
„Denn man darf nie vergessen: der wahre Dichter iedes
Dramas kann immer nur das Publikum sein. Die innere
Phantasie des nüchternsten und beschränktesten Men-
schen ist immer noch hundertmal packender und geheim-
nisvoller als alle gesprochenen Worte der Welt. Wie
wäre es denn möglich, daß alle Mensdien die Natur so
wunderbar sahön finden, wenn nicht alle Menschen
stumme Dichter wären? Wie könnte denn irgendein
Mensch etwas Zusammanhängendes denken oder etwas
Leidenschaftliches empfinden, wenn er nicht ein Dichter
wäre? Und welcher Dramatiker vermag auch nur an-
nähernd S0 originell, dnsdidniidi und ergreifend ge-
stalten wie der nächtliche Traum eines gewöhnlichen
Handwerkers oder eines kleinen Kindes? Die schönsten
und tiefsten Verse können nidit annähernd das aus-
drücken, was der einfachste Galeriebesudier unartikuliert
am findet. Wie töricht ist es daher, wenn der Theater-
dic ter seinem stärksten, hegabtesten und hilfsbereitesten
Bundes enossen: der Publikumsphantasie, nicht den wei-
testen pielraum läßtl"
Anschließend versucht Friedell (an Shakespeare und Schil-
ler) nachzuweisen, daß das „Mitspielenlassen der Szene-
rie" nicht unbedingt neu ist.
Unter Naturalismus versteht Friedell nicht iene Stilrichtung
innerhalb der Kunst- und Literaturgeschidite, deren
Schwerpunkt gewöhnlich in den einschlä igen Fachwerken
in die Zeit der sogenannten Gründeria ra verlegt w: d.
Der Friedellsdie Naturalismus greift viel weiter aus; er
sieht in ieder Epache eine naturalistische Piidse.
„Wenn die stummen, "a selbst die taten Dinge auf diese
Weise in den Dienst des Dramatikers gestellt werden, so
ist das eigentlich der äußerste Naturalismus; und wenn
man will, isi es so dr der roheste, platteste und kunst-
loseste, der sich enken läßt. Aber von der anderen
Seite gesehen, ist es höchster Stil, Stil: das ist etwas
möglichst Festes, Starres, Manumentales. Daher hat die
Baukunst die größte stilbildende Kraft, sie ist die
,stilvallste' Kunst. Ebendarum hat die Skulptur stets mehr
den Charakter des Stilisierten als die Malerei. Die Natur
hat immer Stil. Auf diese Weise lößt sich also - und
gAerade auf dem We e über den Naturalismus - wieder
anumenlalilüt auf er Bühne erreichen. Um es in eine
kurze Farmel zu fassen: der Weg der Entwicklung geht
vom naturalistischen Stil zum naturalistischen Stil." (S. 99.]
"Ebdi. S. 99 („Die Französische Revolution hat auf alle
späteren einen tieferen Eindruck ernadit als auf die
Sensibelsten unter den Zeitgenossen. ')
5' Ebd., S. 100. „Die Dinge sind nur groß, wenn man die
Möglidikeit hat, sie von oben zu sehen. Je ferner
wir einer Sache stehen, desto tiefer wirkt sie auf uns,
desto poetischer erscheint sie uns. Die Natur hat immer
etwas Poetisches, weil sie uns so fremd ist, weil wir so
gßr nichts van iiir wissen, Das, wds war, wirkt DUf
uns allemal tiefer als das, was ist."
"Ebd" S. 100. "Schon Aristophanes und Menander haben
sich um die Historie ebenso wenig gekümmert wie
Moli ra und Nestra . Der größte deutsche Tragiker,
Heinrich von Kleist, hat nur ein einliges Stück esdirie-
ben, das in der Gegenwart spielt: die Komä ie ,Der
zerbrochene Krug'. Und der größte Kamödiendichter
aller Zeiten, Henrik lbsen, hat GUCll eine der größten
Tra üdien geschrieben: die ,Kranprätendenten', die aber
im reizehnten Jahrhundert spielen."
ln „Das Altertum war nicht antik" (S. 100-101) macht
Friedell darauf aufmerksam, daß wir uns sehr lange ein
völlig verzerrtes und falsches Bild von der sogenannten
30
J Unser Autor:
Dr. Gerd-Dieter Stein
Assistent am Institut für deutsche Sprache und
Literatur der Universität Salzburg
A-5020 Salzburg, Schleinlackenstraße 26
m
Antike, von den Griechen und Römern gemacht
bedurfte ganzer Generationen, bis die Altertum
verlernt hatte, „ihr Forschungsgebiet mit ihren b
und Wünschen zu sehen". Den Griechen mit i
nenauge und den Römer mit der Erzstirn kar
gegeben haben. "Ein Volk wie die Griechei
ervarstediendste Eigenschaft in der lebhafte
weglichsten Fähigkeit des Aufnehmens, in ein
traphisch entwickelten Gabe des Sehens bestand,
wie die Römer, dem die ganze Welt gehö e,
dem kältesten Naturalismus ieder Nation ihi
esetz ablausrhte, um sie dadurch um so si
eherrschen: - neu entdeckt und ,verstanden'
Menschengruppe, die überhaupt nach nicht gew
von ihren Augen Gebrauch zu machen, die il
Weltbild aus Büchern, Exzerpten und Urte
Urteile anderer holtel"
Abschließend beschäftigt sich Friedell mit der
ständnissen, die aus ienem früheren Bild, das
van der Antike gemacht hatte, resultieren. Er
Schiller, Goethe und Cornelius hin: „. .. sie I
sie die vielen anderen übernahmen ohneweiters
sizistische Pensum; und Napoleon . . . hatte als
nichts Eiligeres zu tun, als den leeren lackierte
stil zu schaffen."
ln dem Abschnitt „Jesus der Antichrist" (S.
behandelt Friedell kritisch die „Lebensbesch
Christi" von Renan und D. F. Strauß. Anschliet
faßt er sich mit der Frage „nach der Messian
und versucht, für das Judentum typische (
aufzudecken.
„Das Wunder als eine Farm der physikalisc
gie" (ebd., S. 105 f.).
„Die echte Wissenschaft, die schöpferische i
lich fortschreitende, hat nämlich zu allen Zeiten
der einen ihrer Fundamentalbegriffe gesehen; l
in die Tiefe gehende Erklärung einer empiris
sache ist nichts anderes als die Feststellung ei
ders. Der Philolo e beschäftigt sich mit der!
der Sprache, der otaniker mit dem Wunder d-
zenlebens, der Historiker mit dem Wunder des
und so weiter; lauter Geheimnisse, die noch ke
zu entziffern vermacht hat. Ja selbst der P
wenn er nämlich enial ist A stößt fortwül
Wunder." (Eh , S. 05.)
Ebd., S. 106; esen Abschnitt beschließt er
wenig erfreulichen Feststellung: „Es geschet
keine Wunder mehr, aber nicht weil wir in
fortgeschrittenen und erleuchteten, sondern w:
einer sa heruntergekommenen und gattverlass
leben."
„Was sagt Gott dazu?" (ebd., S. 106-107):
tensität, mit der diese Frage gestellt wird, ist
das, was iedem Zeitalter und iedem lndividui
Rang anweist. Die Frage selbst lebt in iedem
denn der Glaube an das Göttliche hat ganz
den Charakter eines lnstinkts. .. . Dieselbe Kra
Pflanzenwurzel Phosphor wählen lößt, treibt
sehen zum Gattglauben und allem, was damit 2
hängt. Wir können die Existenz Gattes mit
Stringenz beweisen, mit der wir die Existen
weiß beweisen können", vielleicht mit keiner
aber sicher mit keiner geringeren.
Inhalt und Zweck aller schöpferischen Tätig!
steht in nichts anderem als in dem Nachweis
Gute, der Sinn, kurz: Gott in der Welt ü
handen ist. Diese höchste, in einzige Realität
da, aber meist unsichtbar. Der Genius macht
bar: dies ist seine Funktion. Man nennt ihn
Vorliebe gotterfüllt. Dieses Wiedererkenn
in der Welt ist die eigentümliche Fähigkeit und
iedes großen Mensdien."