selbst verantwortlichen Tätigkeit werden kann,
wie es wohl kein anderer Stil erlaubt. Denn nicht
einmal die hingeworfene Chiffre des Tachisten,
die ja stets Transkription einer Augenblicks-
stimmung ist und sein muß, ist in ebenso starkem
und überzeugendem Sinne unvollendet, Impro-
visation per definitionem, wie der stets revidier-
bare Malakt des Surrealisten, Es leuchtet wohl
ein, daß hier auch der Ansatz zu einem wesent-
lichen Einwand gegen den Surrealismus läge.
Schwebende Sockel, zerbrockelnde Figuren ä la
Clerici, dergleichen kommt bei Tschinkel öfters
vor. Es fragt sich, ob dieses Motiv eine Allegorie
der Vergänglichkeit ist oder nicht etwa ein
Concetto für das Schweben, was vermutlich für
das kompositorisch bemerkenswerte Bild „Die
Sfinx" (Abb. 7) sehr wesentlich, in geringerem
Maße auch für „Schwer und leicht" (Abb. 6)
gilt, eine sehr durchdachte Verzerrung von
Raffaels "Grablegung".
Surrealistischem Stil entspricht es, daß das Ge-
schehen im Vordergrund in einen leeren, nur
allegorisch abgegrenzten Raum gestellt wird
(Abb. 376). Mehrmals sieht man bis an den
Horizont reichende dominierende Fluchten, z.B.
die Kisten der Strohpuppen-"Mannequins" in
„Unhörbare Schüsse" (Abb. 4), auch Motiv-
wiederholungen wie drei Kisten, drei Stroh-
puppen, drei Würfel, drei Kronen.
Die malerischen Qualitäten Tschinkels gibt die
Schwarzweißreproduktion seiner Bilder freilich
nur andeutungsweise wieder; das zeichnerische
Können kann man an der konsequenten Dar-
stellung der Verzerrungen (Abb. 6) oder an der
virtuosen Beherrschung des liegenden Aktes
(Abb, 4) ablesen. Tschinkel schafft die kom-
pakte Oberfläche seiner surrealistischen Bilder
mit zahllosen feinen Pinselstrichen, mit Unter-
und Übermalungen, und genau hier ist das
Moment zu suchen, da dem Maler das als
kreative Freizügigkeit vorkommt, was der Be-
trachter des fertigen Bildes für von Anfang an
gesetzte Ordnung hält. Hier liegt die Freiheit,
das nur durch sich selbst Bestimmte, der schein-
bar so geordneten, kalkulierten surrealistischen
Kunst. In koloristischer Hinsicht ging Tschinkels
Entwicklung von einer relativen Lokalfarbigkeit
zu changierenden, ..schillernden" reflexreichen
Tönen im Sinne des Manierismus etwa des
Prager rudolfinischen Künstlerkreises.
Gleich eine Vielzahl allegorischer Motive vereint
"Das Licht der Natur" (Abb. 8), ein Werk, in dem
Tschinkels wissenschaftliche Beschäftigung mit
Paracelsus fruchtbar wird. (1965 und 1966 pu-
blizierte Tschinkel im Jahrbuch des Salzburger
Museums „Carolino-Augusteum" eine größere
kritische Arbeit zur Paracelsus-lkonographie.)
Gerade an dem Paracelsus-Bild wird nach der
Meinung Tschinkels sinnfällig, daß Ordnung
durch Ubererfüllung zu einem a vielleicht be-
freienden, vielleicht verwirrenden - Widerspruch
werden kann. Paracelsus war in der Medizin
seiner Zeit voraus, in der Philosophie und Theo-
logie schwankte er zwischen tiefem Aber-
glauben und radikaler Reformation. Mit anderen
Worten, er versuchte die Vielfalt der Erscheinun-
gen in eine Ordnung (aber aus vollig wider-
sprüchlichen Elementen) zu bringen. Genau das
vermag den Surrealisten zu inspirieren.
Zu diesem letzterwähnten Bild kann man sich
freilich verschieden stellen. Gemeinsam aber ist
den Werken Tschinkels ein Zug: daß nämlich
Ordnung durch Über-Erfüllung der Ordnung ad
absurdum geführt werden kann. „Ordnung als
Widerspruch" - es wäre dies in zugespitzter
Form die Erkenntnis des Malers Augustin
Tschinkel, die er den Betrachtern zu geben hat.
Und die prägnanten Bilder, die er für diese
warnende und weitreichende Einsicht findet,
legitimieren ihn als Künstler.
Augustin Tschinkel, Das Urteil des Mars, 1963 Ol
Augustin Tschinkel, Schwer und leicht, 1961 (nach
Flaffael). Ol
Augustin Tschinkel, Die Sfinx, 196371967. Misch-
techriik
Augustin Tschinkel, Das Licht der Natur (Paracelsus),
1964. Ol
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