Franz Unterkirchcr
DAS HARRACH-MIS SALE
Was heute noch _an mittelalterlichen Hand-
schriften vorhanden ist, befindet sidi fast aus-
sdiließlidi im Besitze öffentlidier Bibliotheken
oder Museen. Die Handschriften in klöster-
lichen oder anderen kirchlichen Bibliotheken
sind nidit mehr in gottesdienstlidier Verwen-
dung, audn wenn es sich um liturgische Büdier
handelt. Die einzige Ausnahme bildet der
„Codex Millenarius" in Kremsmünster, der bei
besonderen Gelegenheiten nodi beim feierlichen
Gottesdienst benützt wird.
Außer diesen Handschriften, die in der biblio-
thekarisdien und kunsthistorisdien Literatur
längst bekannt sind, und die auch in Aus-
stellungen der Öffentlichkeit gezeigt wurden,
gibt es noch da und dort Handschriften in
Privatbesitz. Abgesehen von den handschrift-
lichen archivalischen Beständen sind in den
Schlössern alter adeliger Familien noch einzelne
handgeschriebene Bücher erhalten geblieben, die
der Öffentlichkeit noch unbekannt sind. Es
handelt sich dabei meist um Büdier, die mit
der Familiengeschichte zusammenhängen, und
die aus diesem Grund an dem Ort erhalten
blieben, für den sie geschrieben oder erworben
wurden.
Zu diesen Büchern gehört ein Missale im Besitz
der Grafen von Harrach, das wohl von
einzelnen Genealogen des vorigen Jahrhunderts
benützt wurde, das aber der Budi- und Kunst-
geschichte bisher noch nidnt bekannt war. Dem
jetzigen Besitzer, Grafen Ernst Leonhard
Harradi, gebührt der Dank dafür, daß er die
Erlaubnis dazu gab, dieses merkwürdige und
wertvolle Buch der Öffentlidikeit vorzustellen.
KODIKOLOGISCHE BESCHREIBUNG
Das Missale umfaßt 341 Pergamentblätter im
Ausmaß von 365 X 265 mm und als Vorsatz
und Nachsatz je drei ebensogroße Papierblätter.
An sieben Stellen sind Pergamentblätter ab-
handen gekommen (vgl. unten).
Der jetzige Buchblock setzt sich aus vier
versd-iiedenen Teilen zusammen:
An erster Stelle befindet sich der jüngste Teil,
d. s. zwei Pergamentblätter mit Ahnenbildern.
Die darauffolgenden sieben leeren Pergament-
blätter dürften erst bei der Neubindung im
I6. Jahrhundert eingeheftet worden sein,
vielleicht mit dem Plan, darauf die genea-
logisdien Darstellungen fortzusetzen.
Den zweiten Teil bilden sechs Blätter mit dem
Kalender und ein einzelnes Blatt mit dem Text
der Salz- und Wasserweihe.
Auf die ersten 16 Blätter folgt von fol. 17-72
ein dritter Teil, der sich durch die Sdirift und
die Lagenanordnung von den anderen Teilen
untersdieidet. Es sind sieben regelmäßige
Quaternionen. Ihre ursprünglidien Lagenzäh-
lungen und „Reklamanten" (d. s. die ersten
Worte der folgenden Lage auf dem letzten
Blatt der vorhergehenden Lage) sind teilweise
nodi vorhanden, teilweise aber vom Buchbinder
weggeschnitten.
Der vierte Teil, von fol. 73-341, ist aus
Quinternionen zusammengesetzt, jedoch ohne
jede Lagenbezeichnung. Das Blatt 76, das auf
der Versoseite das Kreuzigungsbild trägt, ist
als Einzelblatt eingeklebt. Das jetzige Blatt 108
ist falsch eingebunden. Das jetzige Blatt 126
ist von anderer Hand geschrieben und an
Stelle des schon bei der Bindung fehlenden
ursprünglichen Blattes eingeordnet; von der
gleichen jüngeren Hand ist Blatt 339
gesdirieben. Auf Grund des fehlenden Textes
können die folgenden Lücken festgestellt
werden:
nach fol. 103 fehlt der Anfang der Kirch-
weihmesse; nadn fol. 107 der Anfang der
Nikolaus-Messe; nach fol. 136 der Anfang der
Georgs-Messe; nach fol. 192 der Anfang der
Messe zu Maria-Himmelfahrt; nach fol. 227
der Anfang der Messe zu Allerheiligen; nadi
fol. 236 der Anfang der Katharinen-Messe;
nach fol. 238 der Anfang der Messe zum
Commune Apostolorum. Diese Blätter dürften
schon gefehlt haben, als das Buch neu gebunden
wurde, da sich keine Beschädigungen beobachten
lassen. Da das Missale keinerlei Paginierung
besitzt, war die Kontrolle der Vollständigkeit
schon von Anfang an sd1wierig.
EINBAND
Der Einband stammt aus dem Jahre 1583. Er
besteht aus starken Holzdeckeln (392 X 280
Millimeter), die mit rotem Leder überzogen
sind. Sechs Doppelbünde teilen den Rücken in
sieben Felder. Die Holzdecke] sind nach innen
abgeschrägt. Die Vorderseite trägt den gleichen
Schmuck wie die Hinterseite. Die Deckelfläche
wird durch mehrere ineinandergescharhtelte
Rahmen gegliedert; die Rahmen werden durch
ornamentale Rollen gebildet; der äußerste
Rahmen ist auf seiner Innenseite mit vier aus
Bandwerk gebildeten Edtstücken besetzt. Die
Leisten zwischen den Rahmen tragen kleine
Blatt- und Rosettenstempel. Auch die inneren
Schrägleisten der Deckel sind mit einem Fileten-
muster verziert. Ebenso zeigen die Rückenfelder
Stempelverzierungen. Das kleine Mittelfeld
der Dedrelflächen trägt einen Plattendrudt
(103 X 68 mm) mit der Darstellung des
Crucifixus, links davon die Eherne Schlange,
rechts die Opferung Isaaks. Links und rechts
vom Fuße des Kreuzes die Buchstaben G E. Die
gleiche Platte findet sich auf dem Einband der
Inkunabel 476 der Deutschen Staatsbibliothek
in Berlin'. - Alle Deckelverzierungen sind in
Golddrudr angebracht, der stark verblaßt ist.
Die verzierten Messingschließen tragen die
Jahrzahl 1583. Die Sdmittflächen des Buch-
blodres sind vergoldet und mit punzierten
Ornamenten versehen. - Leider hat der
Budibinder bei vielen Blättern die gemalten
Ranken angesd-mitten.
Am Rüdsen oben ist ein kleiner Zettel an-
geklebt, der die Bibliotheksnummer trägt: V1
Rohrau.
Als Vor- und Nachsatz wurde beim Binden je
eine Papierbinio angebracht, deren erstes bzw.
letztes Blatt auf die Innenseite der Dedxel
geklebt wurde, während die anderen drei
Blätter leer blieben. Das Papier trägt als Wasser-
zeichen den Doppeladler mit dem Wappen von
Memmingen, Briquet Nr. 941. Die bei Briquet
angeführten Belegstücke stammen aus der Zeit
von 15510-15832.
Das dritte Vorsatzblatt trägt auf seiner Verso-
seite links oben mit Bleistift „N"691", darüber
ein kleines Papierzetteldien mit der Zahl 720.
Der Band wird in einer versperrbaren Holz-
kassette aufbewahrt, die innen mit Filz
ausgeschlagen ist.