galerie der Kathedrale Notre-Dame in Paris (um 1220)
und auf die Tabernakel der Portalvorhallen vom Süd-
querschiff der Kathedrale von Chartres (nach 1225) be-
ziehen. Diese Nischenarchitektur ist in Wells so konse-
quent durchgeführt, daß Nischen und Figuren selbst an
der Nord- und Südseite der Westfassade erscheinen.
Reliefs in den Vierpässen der untersten Zone sowie un-
terden Dreipassen der obersten Zone der Westfront-
als Motiv vielleicht ebenfalls abhängig vom Lettner der
Kathedrale in Canterbury - haben eine im wesent-
lichen rahmende Funktion für das die Nischen mit den
lebensgrcßen Figuren tragende Mittelbandfs
Der Baumeister von Wells erwartete von den Steinmet-
zen im Westen Englands die Bewältigung einer Aufga-
be, die diese in der Zeit bis zur Weihe 1239 nicht losen
konnten, da die Zeit zur Entwicklung der gewünschten
Fähigkeiten fehlte. Von den Skulpturen damals sind
heute erhalten: 176 Figuren in voller Lebensgröße, 30
Engelgestalten in halber Größe und 134 kleinere Fle-
liefs. Mehrere Steinmetzen v man nimmt mindestens
elf oder zwölf an - arbeiteten in dem Zeitraum zwi-
schen 1220 und 1255, um die vorbereiteten Nischen mit
den entsprechenden Figuren zu füllen. Deren Große ist
unterschiedlich, so daß manchmal zum Ausgleich hohe
Basen für die einzelnen Statuen bereitgestellt werden
mußten. Deren Stil ist ebenfalls unterschiedlich, obwohl
trotz gewisser Einflüsse aus Chartres und Paris sich be-
stimmte Züge dieser Schule herausschälen (Abb. 14,
15, 16 und 17): die Figuren bleiben weitgehend unkor-
perlich, die rundlichen Falten fallen oft gerade in paral-
lelen Reihen, die Gewänder weisen wenige spezifische
Merkmale auf, und die Figuren sind nur für die Ansicht
von vorn geschaffen. Charakteristikum der Skulpturen
und der gesamten Fassade war gewiß auch die Bema-
lung, deren Spuren John Hope wie folgt beschreibt:
uDie zahlreichen Spuren von Farbe zeigen, daß das Ge
wand unserer Gollesmutfer rar war und der Umhang
schwarzmiteinem grünen Hand Das Gewand des Chri-
stuskindes war karmesinrot. Die steinerne Sitzbank ist
ebenfalls grün gemalt. DerHintergrund der Nische ist in
einem Flut gefärbt, auf dem sich Spuren von Grün lin-
den, vielleicht die Reste eines Ornamenfes. rr"
Die Fassade von Wellsgibtfürdie Gläubigen derZeitein
theologisches Schema, dessen Aussage belehren und
dessen Erscheinungsbild zum Staunen anregen soll.
Die Farbe - ähnlich polychromatisch gefaßt Portale
und Königsgalerie von Notre-Dame in Paris und die süd-
liche Vorhalle der Kathedrale von Lausanne - diente
hierderVisualisierungalljenerSchutzpatrone, Heiligen
und Großen, durch deren Verehrung derGläubige sich
Gnaden und Hilfen erhoffte.
Während die romanische Kirche in Moissac und die go-
fische Kathedrale inChartres zum Beispiel ein reichhal-
tiges ikonographisches Programm erkennen lassen, ist
es bei der Westfassade in Wells ungleich schwerer, das
zugrundegelegte theologische Schema zu erfassen.
Der Hauptakzent liegtzweifelsohne bei den zwei Zonen
lebensgroßer Figuren in der Höhe der drei großen West-
fenster, während alle Reliefs entweder in die recht klei-
nen Vierpässe über der untersten Blendarkadenzone
eingestellt sind oder ähnlich schwer zu sehen als oberer
Abschluß der Schauwand unter Schatten wertende
Dreipasse eingebaut worden sind. Diese Figuren ste-
hen oder sitzen unter einem giebelförmigen Baldachin
je für sich und haben füreinen Laien ein nahezu gleiches
Aussehen, so daß in dieser architektonischen Konzep-
tion eintheologischerGedankein seinen vielfältigen Zu-
sammenhängen nichtentwickelt werden kann. In einem
Vierpaß innerhalb des spitzbogigen mittleren West-
portals ist die Gottesmutter mit dem Christuskind
dargestellt, darüber, unter einem sehrflachen Dreipaß,
die Krönung Mariens. Mit der Verbreitung der Marien-
verehrung und der Entwicklung der gotischen Skulptur
in Nordfrankreich gibt es zahlreiche Beispiele für
die Darstellung Mariens, etwa im rechten Westportal
in Chartres (1145 -1155) oder beim Nordportal in
Bourges (um 1 1 60). Obwohl der spätere Bischof Jocelin
die theologischen Themen derWestfront entscheidend
mitbestimmt haben mag, forderte der Bischof Savaric
34
(1192 bis 1 205)bereits die Marienverehrung in Wells, in-
dem ereinetägliche Messe zu Ehren derJungfrau Maria
vorschrieb." In diesem Punkt hat sich Wells offenbar
an Nordfrankreich orientiert.
Ansätze zu einem zusammenhängenden Gestalten
werden in den Vierpässen auf der Höhe der Marienkrö-
nung und in den Szenen sichtbar, die den oberen Ab-
schluß der frühgotischen Fassade bilden. In den Vier-
pässen unten sind auf der Südseite Szenen des Alten
und aufder Nordeite Szenen des Neuen Testaments zu
erkennen. Doch diese Skulpturen sind nicht aufeinan-
derbezogemsondern stellenpunkthatt Einzelbilderdar,
wie zum Beispiel die Erschaffung Adams oder den Bau
der Arche Noah. Die Reliefs am oberen Abschluß der
Schauwand sind zwar durch dünne Säulchen voneinan-
der getrennt, entwickeln aber weder in verschiedenen
chronologischen noch theologischen Aspekten das
Thema, nämlich die Auferstehung der Toten. Die aus
der Nähe betrachteten Figuren wirken steif und sind we-
nig bearbeitet, obwohl sie aus der Entfernung bewegt
und in ihren Körperhaltungen recht abwechslungsreich
erscheinen. Die Möglichkeit wird nicht genutzt, einen
17 Kathedrale von Wells, Fassade, Frauengestalt (George H.
Hall)
Anmerkungen 4G - 52
" Zu dem Thema fruher Stsinmstzarbeiten in Wells siehe: JOSEPH Arml-
tage Robinson, Effigies ol Saxon Bishops at Wells. Archaeologia 65.
1914, 95- 112. Die Beziehung zu Norwegen und auch zu Frankreich
untersucht Aron Anderssun, Engilsh lnfluence in Norwegtan ind
Swedish Figuresculoture in Wood 1220 - 127D, Stockholm l949, 44 ff.
Eine Untersuchung der Skulpturen der Westfront aus iüngerer Zelt
findet sich irl dem Hettchen von Pamela Tudor-Craig, Orte Hält 01 our
Noblest Art, Wells 1976. _v
" Hupe und Lethaby,19l74,150.Ubsrsetztausdem Englischen. ZumThe-
ma Farbigkeitder Kathedraleslahe HansSedlmayr, Die Entstehung der
Kathedrale, Graz 1976, 23 ll.
u M.Church, 18GB, 96.
" Uberdieeinzelnen Skulpturen stehe Hope und Lethaby, 1904. Die in lo-
kalen Schriften Lblichen ldentlllzierungen der Skulpturen Sind zurück-
zulühren auf die ungesicherten Erklärungen von Charles Robert
Cockeretl, lconography ol iha West Front or Wells Calhedral, Oxford
und London 1851.
I- t-loVe und Lethaby. 1904, 156.
Ir ote Gruppe der Apostel wurde bald nach dem Beginn der Restaurie-
rungsarbeiten an der Westfront 1975 in Angriff genommen, aber nur
vorläufig restauriert. Höchstens t 5Skulpturen dergesamten Westfront
sollen ersetzt werden; es ist vom t-West Front Committeeu noch nicht
entschieden worden. welche Figuren es seln sollen. Die Arbeiten wer-
den bis etwa 1965 andauern.
M Hope und Lethaby, 1904, 111 t.
theologischen Gedanken - die Parusie oder das End-
gericht - in seinen vielfältigen Bildassoziationen vor-
zustellen. Eine Abhängigkeit von Chartres oder Paris im
Detail nachzuweisen - in der Steinbearbeitung oder in
der szenischen Darstellungsweise - fällt schwer, da
die Arbeiten an der Westfront wohl einheimischen
Steinmetzen oblagen.
Von den heute noch erhaltenen lebensgroßen Figuren
kann nur ein geringer Teil als die Darstellung eines be-
stimmten Heiligen identifiziert werden, obwohl auch
dann meist noch Zweifel bleibenf" Bischöfe und Köni-
ge können als solcheerkanntwerden, ebenfalls Frauen,
Adlige, Päpste, Mönche und Einsiedler, Soldaten, Köni-
ginnen. ln Parallele zum Südportal in Chartres ist vorge-
schlagen worden, daß zum Norden hin die Märtyrer und
Jungfrauen, auf der Südseite die Bekenner gruppiert
worden sind, aber diese vage Einteilung bleibt bei der
GrößeundZahlderFiguren, beidem monumentalenAn-
spruch dergesamten Westfront unbefriedigend. Die ur-
sprünglich vorhandenen Schwerter, Lanzen oder Szep-
ter, die wegen des Fehlens metallischer Spuren wohl
aus Holz waren, können zur Identifizierung der einzel-
nen Figur nicht mehr beitragen. Da auch die Malerei mit
allen Ornamenten und Symbolen ausgewaschen ist,
läßt sichdastheologische Schema, wie es derGläubige
des 13. Jahrhunderts wohl aufnahm, nicht mehr rekon-
struieren. Hinzu kommt die Möglichkeit, daß eine Reihe
von Skulpturen ausgetauscht wurden." Die Figuren
wurden nicht mit dem Mauerwerk verbunden, sondern
als loser Block in die Nische hineingestellt. Ob die
Nischen unterhalb der Majestas Domini jemals im
13. Jahrhundert mit Figuren bestückt wurden, läßt sich
nicht feststellen; die dort stehenden Engel und Apostel
sind aus stilistischen Gründen in die Zeitdes ausgehen-
den 14. bzw. die Mitte des 15. Jahrhunderts einzuord-
nen." Vom architektonischen Konzept her bleibt der
Eindruck, daß die dargestellten Märtyrer, Jungfrauen
und Bekennerje für sich betrachtet sein wollen, Daher
sind Heilige wie z. B. Oswald, Edward und Kenelm ganz
beliebig eingefügt, die auf Grund lokaler Traditionen ei-
ne religiöse Bedeutung erlangt hatten? Bei den Über-
legungen zum Entwurf der Westfassade werden eher
die Formen der Volkslrommigkeit als die theologischen
Gedankengänge berücksichtigt worden sein.
Zum Abschluß sei noch einmal zusammengefaßt, wo-
rum es indieser Untersuchung geht. Die Kathedralevon
Wells ist für die Baugeschichte Englands bedeutsam,
weil hier in etwa parallel zu Canterbury zum ersten Mal
in England gotische Elemente einen Bau als ganzen be-
stimmt haben, der durchaus selbständig englische Tra-
ditionen weiterführte und entwickelte. Daher ist die
tiwestliche Schulett immer als etwas charakteristisch
Englisches empfunden worden. Die Betonung der Flä-
che und das Arbeiten mit dekorativer und figürlicher
Bauplastikgibtes zwarschon in der romanischen Archi-
tektur, aber in Wells werden diese Züge zu einem goti-
schen Gesicht umgeformt: die Bezogenheitaufdie Flä-
che bleibt, aber die Mauer wird in derArkadenzone, im
Triforium und bei der großen Westfassade aufgelöst,
und architektonische sowie plastische Einzelelemente
prägen den Charakter der Wand und des Raumes. Die
Vertikale ist nicht die allein dominierende Kraft; das
langgestreckte Hauptschilf und die Westfront sind
durch die Horizontale bestimmt, Die großen Rasenfla-
chen um die Kathedrale unterstreichen diesen Charak-
terzug. Die Erfahrung des Großraumes und der Zwang
zur Beobachtung des plastischen Details sind Pole der
lnnenraumgestaltung ebenso wie der Lichteinfall an
den Stirnfronten des Bauwerks und die optische Dun-
kelzone im Triforium. Wells entwickelt die im Langhaus
grundgelegten Gedanken an der Westfassade weiter.
Der Gitteraufbau der Wand laßt die lebensgroßen Figu-
ren in ihren Adikulen isoliert stehen und schafft statt der
Konzentration auf erzählerische und theologische ln-
halte an den Portalen eine Streuung der Darstellungs-
weise, die die Vielfalt der Kultobjekte gleichmäßig be-
rücksichtigt. Die verschiedensten Gestaltungselemen-
te und Traditionen werden in Wells zu einem neuen Gan-
zen verschmolzen.