Schon sehrfrüh im Jahre 1944, zu Beginn meinerVorar-
beiten für die umfangreiche Biographie Kokoschkas,
kam diese Gegenüberstellung O. K. - Schiele zur Aus-
sprache. Etwas nebenbei, nurhingemurmelt, aberdoch
ganz entschieden und fast mit denselben Worten, wie
sie in dem hiervorliegenden Brief vorkommen. Das hat
seine Bedeutung, denn schließlich waren zwanzig Jah-
re vergangen, damals, als ich mit der Niederschrift mei-
ner Biographie beschäftigt war. und der Brief hat auch
sein besonderes Gewicht, weil es der eines Künstlers
an seinen Biographen ist. Nunsollen Briefe vorallem als
persönliche, also subjektive Dokumente angesehen
werden, auch wenn sie objektive Tatsachen beinhalten,
Details sozusagen. die besondere Umstände näher be-
leuchten, so daß sie als Kriterium betontwerden und so
als mehr ausschlaggebend gelten können. Nun sagtdie
kleine Episode aus dem schon zerrütteten Verhältnis
von O. K. und Alma Mahler eigentlich weniger über die
beiden Künstleraus als überdie Einstellung eines Publi-
kums, das um 1914 in seinerStellungnahme zur Moder-
ne noch unentschieden war, vor allem aber über die Flol-
le des internationalen Kunsthandels, der sich anmaßte
Kunstgeschichte zu schreiben und den Zeitgeschmack
entscheidend zu beeinflussen. In einer Ära. in welcher
der Kunstförderer und Anreger nicht mehr eine wähleri-
sche und persönlich entscheidende aristokratisch-
kultivierte Persönlichkeit ist. sondern ein immer mehr
anwachsendes Publikum von aspirierenden Sammlern
und Spekulanten, wird der Kunstwert vom Geldwert ab-
hängig gemacht, worin vor allem das Interesse veran-
kert liegt. Was einerseits eine individuelle und ganz per-
sönliche Aussage ist, ein Aufschrei innerer Qual, der
AusdruckdräuenderZweifel, aber auch einZeugnis von
Schönheit. Sinn und Mysterium des Seins, das Kunst-
werk. das wird zum Börsenprodukt. Doch sagte O. K. be-
zeichnenderweise: in einer kulturlosen Zeit muli die Un-
beholfenheit entschuldigt werden, die sich in hohen
Preisen ausspricht, denn nurwofür der Mensch der Ge-
genwart viel Geld ausgibt, das schätzt er, und so wird
das Geld zum Maßstab seiner Würdigung.
Die peinliche Geschichte des Wiener Publikumge-
schmacks in den zwei ersten Jahrzehnten dieses Jahr-
hunderts, die Einstellung zu dem jungen zielbewußten
Kokoschka - es gab bedeutende Ausnahmen - ist zur
Genüge bekannt. So auch der glattgeschorene Schädel
des Künstlers. der in der Presse als Verbrecher hinge-
stellt, auch als solchererscheinen wollte. Es warja kein
Sonderfall. Wenn in Paris das Publikum mit Schirmen
und Stöcken impressionistische Bilder angriff und lä-
dierte, kam es doch auf dasselbe heraus. Der Durch-
bruch aus dem Gefängnis des Akademismus war
schwer, die Geburtswehen schmerzvoll. Auch darf der
eherne Schrlttder Entfaltung der modernen Kunst nicht
außer acht gelassen werden. in dem Schule gegen
Schule, lsmus gegen lsmus, Generation gegen Genera-
tion ausgespielt wurde. Im Falle Kokoschka - Schiele
kann kaumvoneinemGenerationsunterschied unddes-
halb Generationsstilwechsel im Sinne Pinters gespro-
chen werden, denn beide waren Zeitgenossen in einer
Umbruchsperiode, fast gleichen Alters. Und doch wies
Schiele gleichsam in die Zukunft, in eine Zeit, die noch
nicht war, die sich aber zügelloser gestaltete als die ei-
gene Gegenwart, in dem derweitere Zerfall und Nieder-
gang in Sitten, Geschmack und Bewußtsein sich ankün-
digte: eben die Pornographie, die heute als letzte Zu-
flucht aus der Atemnot der Abstraktion gilt, dem Anti-
Art-Paradies der Amerikaner, der fotografischen Phan-
tasielosigkeit des Superrealismus, der an eine tote
Kopie des Lebens glauben will. Als ich bei Anlaß der er-
sten Schiele-Ausstellung in London mit dem englischen
Maler William Scott durch die Fläume der Galerie wan-
derte, schüttelte Scott unentwegt den Kopf um endlich
entrüstet auszustoßen: r-Was haben wir Engländer nur
die letzten 35 Jahre gemachtihi Das nun war nicht als
Anerkennung von Schieies künstlerischen Qualitäten
anzusehen, sondern eher als das Bewußtwerden eines
alten puritanischen Alpdrucks, der im England unserer
Tage bewirkt hat. daß kein Journal, keine Zeitschrift.
kein Buch erscheint, in dem nicht über Sex gesprochen
wird. so daß einem Zentraleuropäer ganz unwohl zu-
mute wird.
Das allzufrühe tragische Hinschwinden eines jungen
Talentesdas, wer kann eswissen,Wegedes Schöpferi-
schen betreten haben mag, die nur ahnungsvoll in sei-
ner Unreife schlummerten und Großes versprachen, ist
tief in das Bewußtsein seiner Zeitgenossen eingedrun-
gen, und man versteht gut die Beklommenheit vor dem
frühen Todeines Künstlers, den Linusgesang der klassi-
schen Griechen, die das Beklagenswerte in die Sphäre
der Mythischen emporhoben. aussprechend, daß die
Götter die llebreizenden und begabten Jünglinge und
Jungfrauen allzusehr liebten und siedeshalb zu sich be-
riefen. Mir persönlich ist eine Antithese O. K. - Schiele
nie zur Wirklichkeit geworden, der junge Kokoschka
stand hoch darüber und jenseits davon, und das haben
einige ausenuählte Wiener schon immer begriffen. Ko-
koschka war rein. Das Positivste. das man über Schiele
und seine Kunst sagen kann, ist, daß er sein Bewußtwer-
den des Erotischen als tragisch empfand, als eine Last,
unter der der Jüngling fast zerbricht, dem Reinen, Un-
schuldigen nachweinend. Schiele warvordem Erlebnis
der Eros wie gelähmt, ein Vogel unterdem starren Blick
der Schlange, der junge Mensch vor dem Medusen-
haupt. Eros warnichtgesund, erwarfürchterlich, blutig.
Wenn wir von den wheiligenii Kinderzeichnungen des
ganz jungen Kokoschka sprechen, den hageren Akro-
baten-Knaben und Mädchen, dann wissen wir, daß
nichts von Peter Altenbergs Sensualität angestrebt ist.
Da war ein dem jungen Künstler heiliges Feuer am
Werk. lnallden vielen Jahren, da ich Kokoschka kannte.
also von 1934 in Prag angefangen bis zum Ende in Ville-
neuve, habe ich ihn nie einen unsauberen Gedanken
aussprechen hören; er vertrug keine zweideutlge Anek-
dote, und als ich ihm einmal eine ganz harmlose von
Max Liebermann erzählte. den er sehr verehrt hat, run-
zelte er nur dieStirn und blickte leer in den Raum. Dabei
war er ein leidenschaftlicher, vollblütiger Mensch.
Zu der Korrespondenz zwischen einem Künstler und
seinem Biographen - in meinem Falle begann sie 1937
in Schweden. als Kokoschka in schwierigen Umstän-
den in dem kleinen Hafenort Polperro in Cornwall lebte,
und ich versuchte ihm eine Ausstellung in Göteborg zu
veranstalten, doch hat derAusbruch des Krieges es ver-
hindert -, in einer solchen Korrespondenz werden vie-
lerlei Probleme und Fragen berührt. solche politischer
und humanistischer Natur, dann wieder philosophische
und religiöse. Zeitgenössisches und Historisches. und
all dies muß in Betracht gezogen werden, wenn es um
das Verstehen der Persönlichkeit des Künstlers geht,
die Vertiefung in sein Wesen. Was in dem vorliegenden
Brief, einem unter vielen, ausgesprochen wird, ist die
Beleuchtung gewisser persönlicher Umstände aber
auchein kulturhistorischer Hinweis.derdie Zeitcharak-
terisiert. Dem Reinen ist alles rein, dem Bedeutenden
alles plausibel, weil sein Standpunkt über die Dinge hin-
ausweist. Und sowie Kokoschka stets seine Landschaf-
ten von einem höher gelegenen Punkt malte, so dachte
erauch, einzigartig und oft überraschend, in seinem Sils
Maria' das, fast unvermerkt in unserer Mitte zu liegen
kam.
' De! Ort im Engadin, wo Nietzsche seinen Zarathustra schrieb,
47Kein Volltext zu diesem Bild verfügbar.
Kein Volltext zu diesem Bild verfügbar.