HILDE ZALOS CER
Die Älmzxienlrildnisxe au: dem Ftljlflll
Das Werden der christlichen Kunst wie das der christlichen Kultur
überhaupt war von ihrem Anfang an durch ein schwerwiegendes Erbe
behindert. In den altorientalischen Kulturen ebenso wie in der an-
tiken entwickelten sich die Kunst- und Denkformen simultan, sie
waren wesensgleich und entsprachen einander. Die christliche Kunst
aber, deren Weltbild so fundamental verschieden war von dem ihrer
Vorgängerinnen, rnußte sich der Denk- und Kunstformen der Klassik
bedienen und sich mit deren Wortschatz ausdrücken. Wenn auch die
seelischen Inhalte längst schon andere geworden waren, so verwendet
sie noch immer die Formen der antiken Philosophie, Dichtung und
Kunst.
Waren daher die Bauelemente, mit denen die christliche Kunst ihr
neues Gebäude errichten sollte, ihr so wesensfremd als möglich, so
konnte sie die Schwierigkeit nur so überwinden, daß sie diese Ele-
mente umformte, sie so lange transmutierte, bis sie schließlich dem
neuen Inhalt adäquat waren. Dieser Prozeß der Transmutation klas-
sischer Formen, der mimetischen Kunstformen einerseits und der
vorwiegend rationalen Denkformen anderseits, in solche, die das
metaphysische und pneumatische Weiterleben der christlichen Kultur
ausdrücken und ihm entsprechen, mußte eine Kunstsprache sui generis
ergeben. Denn die Formen, die a priori mimetischen Zweck verfolgten,
einen eindeutigen Realitätswert besaßen und aus der Natur selbst
stammten, werden durch Formprinzipien, die aus einem anderen Be-
reich stammen, um ihre ursprünglichen Eigenschaften gebracht. Sie
erfahren gleichsam eine Transsubstantiation. Es mag eine müßige
Frage sein, sie ist nichtsdestoweniger interessant: wie hätte sich die
christliche Kunst präsentiert, welches waren wohl ihre Formen ge-
wesen, wenn sie sich frei von dem schwerwiegenden Erbe der Klassik
hätte entfalten können, wenn die geistige Energie, die sie für den
Umschmelzungsprozeß verbrauchte, zum unbehinderten Schöpfertum
frei gewesen wäre.
An einer geschlossenen Gruppe von Denkmälern, die uns wie durch
ein Wunder erhalten geblieben sind, läßt sich dieser Prozeß der Adap-
tierung wesensfremder Kunstformen in aller Deutlichkeit verfolgen.
Die Mumienporträts aus dem Fayum, deren Lebenstreue kaum über-
boten werden kann, werden durch einen subtilen Formungsprozeß,
durch eine spezifische Formstruktur, ihrem neuen rein pneumatischen
Inhalt gemäß umgebildet.
So ist die Bedeutung der Mumienbildnisse, die Ende des 19. Jahr-
hunderts zu Hunderten in der ägyptischen Oase Fayum, dem einstigen
Arsinoä, gefunden wurden, mehrfach. Einmal ist es ihr rein künst-
lerischer Wert, denn wir haben in ihnen Menschendarstellungen von
einer Wirklichkeitstreue und Lebensnähe, der die europäische Kunst
"kaum ähnliches zur Seite stellen kann. Die historische Bedeutung
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dieser Werke ist kaum geringer, denn sie sind die bisher einzigzn
bekannten authentischen Beispiele der untergegangenen klassischzn
Tafelmalerei. Darüber hinaus aber offenbaren sie eine neue Ästhetk,
die eingebettet in einer neuen Lebenshaltung, einer neuen Weltauf-
fassung, Ausdruck einer neuen Sinngebung ist. Denn wie jedes Kun at-
werk laßt sich auch das Murnienbildnis nicht abgelöst von der Ganz-
heit der geistigen Errungenschaften seiner Zeit denken, es ist nur ein
Teilausdruck zur allgemeinen Problematik. Diese bewirkt nicht nir
eine neue Art der Menschendarstellung, sondern eine bestimmte G: .t-
tung der Kunst, deren Anfange wir in den Murnienbildnissen erkennm
können und die in der byzantinischen Kunst, besonders aber in der
Ikonenmalerei ihren reinsten und monumentalsten Ausdruck iindm
wird.
Die historischen Fakten sind einfach. Im Jahre 1889 führt Th. Giai
in einer Wanderausstellung durch alle Großstädte Europas einem
ebenso verbliiiften wie entzückten Publikum etwa 100 auf Holz ge-
malte Porträts vor, die er von Beduinen im Fayum erstanden hatte 1.
Sie stammten von Mumien, vor deren Gesicht sie maskengleich le-
festigt waren. Die Wirkung dieser Bildnisse dürfte um so größer
gewesen sein, als viele, sowohl der Faktur als auch der Farbgebung
nach, Werken des damals im Mittelpunkt des künstlerischen Interesses
stehenden Impressionismus verblüffend ähnlich waren. Als Stimmen
laut werden, daß es sich um Fälschungen handelt, geht der engliscic
Archäologe Flinders Petrie nach dem Fayum. In zwei Grabungsar
schnitten findet er etwa 150 Mumienbildnisse noch „in situ", womit
die Authentizität der GraPschen Bildnisse bewiesen war.
Die wissenschaftliche Bearbeitung der Werke, die nun folgte, ko 1-
zentrierte sich auf Fragen der Datierung und der Technikl. Ver-
gleichsmaterial war keines vorhanden, doch ließ sich auf Grund
paläographischer Argumente 4 manche der Mumien trugen sogenannte
„Etiketten" um den Hals, l-lolztäfelchen, auf denen Name und Be-
stimmungsort der Mumie vermerkt war3 A weiters durch Papyrus-
fragmente und Münzen, vor allem aber durch die Bildnisse aus d:r
Grabkammer des Pollius Soter4, der zur Zeit Hadrians Archont m
Theben gewesen war, schließlich durch den Frauenschmuck, die Dr
menfrisuren und die Barttracht der Männer ein annäherndes Datum
festsetzen. Alle Fakten wiesen in die ersten Jahrhunderte unserer Ära-
Vicl genauer aber konnte man nicht sein. Was die Chronologie de!
Bildnisse anlangt, deren Stil sehr unterschiedlich ist, so haben Petrie5.
nach ihm Edgarü und Drerup? einen im wesentlichen gleichen Ent-
wicklungsprozeß angenommen, der sich im übrigen dem allgemeinen
Kunstablauf angleicht. Demnach waren die hellen, malerischen und
illusionistischen Bilder die früheren, die linear-i-"iächigen, dunklen und
byzantinisch-expressiven die späteren. Der Entwicklungsprozeß durfte