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Volltext: Alte und Moderne Kunst IX (1964 / Heft 73)

Wirklichkeit bewahrt. Hart und steinig ist die New- 
England-Landschaft. felsige Küstenstriche und von 
Steinmauern durchzogene Felder. einfache Holz- 
häuser. oft in einer gedämpften. ziegelroten Farbe, 
die ursprünglich aus dem heimatlichen Lehm ge- 
wonnen wurde. auch weiß und grau angestrichen. 
die Eckpfeiler und Fensterrahmen weiß, das Haus 
gegen die Umgebung absetzend. Klar und stark, 
nichts verschleiernd. ist das Licht. das diese Landschaft 
zu allen Jahreszeiten. dem zarten und kurzen Frühling. 
dem trockenen Sommer. dem wundervollen. langen 
Herbst und schweren Winter. beherrscht. Zwischen 
dem Charakter dieser Landschaft und dem Mestlers 
bestand eine geheimnisvolle AtTmitdt. Es ist. als hätte 
die Landschaß sich ihren Maler erzogen. der sie 
sich aneignete und der sein Wesen in ihr Findend. 
zum "schaffenden Spiegel" wurde. Kehren wir noch 
einmal zum ..Sugar Hause" zurück. Mestler hat das 
kleine, rote Häuschen. in dem im Frühling in Vermont 
der Ahornzucker gekocht wird, in das Zentrum ge- 
stellt. Iäßt es von den jungen. in zarten Farben schon 
glänzenden Wiesen umfluten. Kleine Bäumchen, kaum 
beblättert. stehen in diesem nur von einer Steinmauer 
durchzogenen Wiesenmeer. Mestler hat es sich erlaubt. 
in diesem Bild kraftvoller als gewöhnlich der Stärke 
dieser Vorfrühlingswelt im symphonischen An- und 
Abschwellen des Frühwindes Ausdruck zu geben. Das 
Häuschen bleibt der ruhige Pol. aber das Fenster. 
ähnlich denen im Halleiner Bild. und die starke weiße 
Scheitellinie geben auch ihm Leben. 
Mestlers Aquarellkunst hat sicherlich ihren großen 
Ahnen im Werk Rudolf von Alts. Dennoch ist Mestlers 
Bild ganz modern. ist nachimpressionistisch und 
gerade in der Behandlung und Verwandlung der 
Formen selbst den Schöpfungen Paul Klees über- 
raschend nahe. 
Mestlers Nach-Expressionismus verdeutlicht sich. wenn 
man seine Pflanzenbilder, zum Beispiel den hier 
abgebildeten "Hollyhack with bumblebee", 1953, 
betrachtet und dabei an die Pflanzenbilder Egon 
Schieles denkt. Beide erfassen verschiedene Augen- 
blicke der sich entfaltenden und blühenden Pflanze 
und vermitteln das erregende Gefühl lebendigen 
Wachstums. Beide sind sie dem deutschen Kupferstich 
des 16. Jahrhunderts und der chinesischen Graphik 
verpflichtet. eine Erbschaft. die sich bei Mestler viel- 
leicht noch deutlicher zeigt als bei Schiele und 
wiederum aus dem gleichen Grund. der schon vorher 
angedeutet wurde. dem Zurückfiihren des formen- 
sprengenden Ausdrucks in die Grenzen der Er- 
scheinung. 
Nicht immer - und besonders in seinen letzten Ar- 
beitsjahren - hat Mestler seine Aquarelle zu Ende 
geführt. und nicht immer sind die fertig gewordenen 
seine geglücktesten Arbeiten. Zu den anziehendsten 
und besten seiner Aquarelle gehören viele solcher 
unfertigen Blätter. Manchmal sind Bildpartien gemalt. 
oft die obere Hälfte und andere Teile in der Zeichnung 
belassen. Siehe "Blick über die Dächer". Boston. um 
1948; andere Blätter zeigen wieder ein durchgehen- 
des Übergehen von der Farbe zur Zeichnung und 
wieder zur Farbe. Fast immer ist das Resultat eine 
besonders reizvolle und eigenwillige Verbindung. 
Der fragmentarische Charakter vieler seiner Werke 
zeigt die unbeschreibliche Anforderung an seine 
Energien, und man kann an einen Bogen denken. der. 
wenn noch mehr gespannt. brechen würde. Ein 
weiterer Pinselstrich würde das Erreichte gefährden. 
und in diesem Sinne sind auch diese unvollendeten 
Werke in sich vollendet. 
Mestlers Schulung als Radierer ging die als Maler 
voraus. und in all den Jahren seines künstlerischen 
Schaffens wandte er viel Kraft und Zeit auf diese. 
Mestlers Zeichnungen, mit Ausnahme seiner Porträts. 
sind meistens Vorarbeiten zu Aquarellen oder Radie- 
rungen. Es besteht eine dichte Nähe zwischen Mestlers 
Zeichnung und Radierung. letztere bewahrt im Grunde 
noch den Charakter der Zeichnung. Straßenwin- 
dungen in Sievering. Blicke auf den Kahlenberg und 
Leopoldsberg sind häufig Gegenstand seiner Radie- 
rungen der dreißiger Jahre._ln diesen erscheinen 
immer wieder Zäune. und man kann den Zaun. 
später die diesen vertretende Steinmauer, als Mestlers 
Initiale bezeichnen. Zaun und Mauer durchqueren 
die Landschaft. drücken ihr zart, aber entscheidend. 
menschliche Tätigkeit auf. machen uns oft das Fremde 
heimlicher. Aber auch eine andere. der vorigen 
entgegengesetzte Bedeutung hat der Zaun. Er trennt, 
schließt aus. kann selbst den Blick in den Geselligkeit 
und Freude versprechenden Garten wehren. So 
symbolisiert der Zaun auch diese Seite für Mestler, 
der sich so oft aus menschlicher Gemeinschaft ver- 
stoßen und als Zaungast des Lebens fühlte. 
Zu Mestlers anerkanntesten Radierungen gehört 
..Wintereinsamkeit".1937. die in einer Reproduk- 
tionsserie des Fogg Art Museums aufgenommen 
wurde. Alles. was über Mestlers Kunst und Leben 
angedeutet wurde. gilt auch für dieses Werk. Mit 
sparsamsten Mitteln ist hier die Identität von innerem 
und äußerem Dasein, von Ich und Landschaft erzielt. 
Klar und hart stehen die schwarzen Stämmchen im 
sanften Schnee. die Zweige einander berührend und 
überschneidend. Die ganze Schönheit des reinen 
Winters ruht in diesem Bild. in dem ein Augenblick 
der Schöpfung auf immer festgehalten ist. 
Mestler wurzelte als Künstler im Alten. gleichzeitig 
suchte und ging er neue Wege. Seine Kunst ist eine 
Brücke zwischen Altem und Neuem und zwischen 
Alter und Neuer Welt. 
4 Ludwig Matter, 
Wintereinsamkeit. Radierung. 1937. 
Fogg Art Museum. Harvard Univevsity 
5 Ludwig Mestler. 
Blick über die Dächer in Boston. Aquarell. um 1948. 
Fogg Art Museum. Harvard University 
6 Ludwig Mestler. 
Hollyhock with bumblebee. Aquarell, 1953. 
Joan Peterson Gallery. Boston
	        
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