GRÖSSE UND FORM DER PLÄTZE.
56
anmutiges geschlossenes Bild gegeben. Freilich ist dies nur
möglich bei der geschickten Straßenführung alter Städte
und bei Gassenbreiten von nur 2 bis 8 m. Welche Riesen
dimensionen müssen aber aufgeboten werden, um einen an
einer modernen Hauptstraße von 50 bis 60 m Breite lie
genden Platz noch halbwegs zur Geltung zu bringen? Die
Ringstraße in Wien hat 57 m Breite, die Esplanade in
Hamburg 50 m, die Linden in Berlin 58 m. Nicht einmal
der Markusplatz in Venedig hat diese Breite. Was soll man
aber zu der 142 m breiten Avenue zum Triumphbogen in
Paris sagen? 58 zu 142 m, das sind die mittleren Dimen
sionen der größten Plätze aller alten Städte. Je größer der
Raum, desto kleiner ist aber in der Regel die Wirkung,
weil Gebäude und Monumente endlich nicht mehr dagegen
aufkommen können.
In jüngster Zeit ist eine eigene nervöse Krankheit
konstatiert worden: die »Platzscheu«. Zahlreiche Menschen
sollen darunter leiden, d. h. stets eine gewisse Scheu, ein
Unbehagen empfinden, wenn sie über einen großen leeren
Platz gehen sollen. Als Ergänzung zu dieser physiologischen
Beobachtung sei die künstlerische angeschlossen, daß auch
aus Stein und Erz geformte Menschen auf ihren monumen
talen Sockeln von dieser Krankheit befallen werden und
somit immer lieber (wie schon eingangs erwähnt) einen
kleinen alten Platz zum Standquartier wählen, als einen
leeren großen. Von welchen Dimensionen müssen auf solchen
Riesenplätzen alle Statuen sein? Mindestens doppelte und
dreifache Naturgröße und darüber. Gewisse Feinheiten der
Kunst sind da von vornherein unmöglich. Die Platzscheu
ist eine neueste, modernste Krankheit. Ganz natürlich, denn
auf den kleinen alten Plätzen fühlt man sich sehr behaglich
und nur in der Erinnerung schweben sie uns riesengroß
vor, weil in der Phantasie die Größe der künstlerischen
Wirkung an die Stelle der wirklichen tritt. Auf unseren
modernen Riesenplätzen mit ihrer gähnenden Leere und er
drückenden Langweile werden auch die Bewohner gemüt-