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Volltext: Wien am Anfang des XX. Jahrhunderts : ein Führer in technischer und künstlerischer Richtung, Band 2: Hochbau und Architektur, Plastik und Kunstsammlungen

Katholische Kirchen des Mittelalters. 
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folgern, Dombaumeister Schmidt und Dombaumeister Jul. Hermann, restauriert worden. Zwischen 
diesen Giebeln wachsen je drei Strebepfeiler empor, viel reicher an Zier als die des Chores. 
Blendmaßwerk schmückt die Flächen, am höchsten Absatz steht ein Baldachin, für Statuen 
bestimmt, darüber eine kleine krabbenbesetzte Fiale; der Körper des Strebepfeilers aber setzt 
sich wesentlich schwächer weiter aufwärts fort und endet über der Galerie, die sich an den 
Langseiten bis zu den Heidentürmen hinzieht, wieder in eine Fiale. Zwischen den Streben ist 
die Wand von je zwei reich gegliederten Fenstern durchbrochen. Paneelwerk überzieht die Zwickel 
zwischen denselben. Der vierte Strebepfeiler vom Turm ab bildet die Ostwand der westlichen, 
die Fassade verbreiternden Kapellen. Er hat noch Gliederung und Baldachin der anderen drei. 
Das Untergeschoß der beiden zweijochigen Kapellen stammt aus der Mitte des 14. Jahrhunderts 
und ist reicher durchgebildet als das obere, das erst im 15. Jahrhundert aufgesetzt wurde, um 
die Heidentürme, die durch den Abbruch der alten Gewölbe während des Langhausneubaues 
gelitten hatten, seitlich zu stützen. Der inneren Jochteilung entspricht außen ein Strebepfeiler 
mit tiefer sitzendem Baldachin. Die Lösung des Eckpfeilerproblems ist derart, daß weder dem 
Anblick von der Langseite noch der Wirkung der in den unteren Partien zum größten Teil 
romanischen Fassade Eintrag geschieht. Eben deshalb hat der Meister an der Westseite der 
zwei unteren Kapellen Rundfenster angebracht. 
An der Westfassade, deren Erhaltung ein Hauptprogrammpunkt für den Neubau war, 
hat die gotische Zeit manche ästhetisch weniger befriedigende Änderungen vorgenommen. Die 
beiden früher selbständigen Heidentürme mußten zugunsten der gotischen Gesamterscheinung 
in der riesigen Dachfläche ihren Untergang finden. Die Höhe der Westfassade bis zur Galerie 
beträgt 30 m, ihre gesamte Breite 44 m. Der Vorraum unter der Orgelbühne, den man durch 
das Riesentor zunächst betritt, ist selbst nach der in gotischer Zeit (15. Jahrhundert) voll 
zogenen Erhöhung der Empore gegenüber der Breite zu nieder. Die spätgotische Architekturzier 
der Vorderseite der Empore gibt in ihrer Ausdehnung ungefähr die Breite des romanischen 
Baues an. Die nach ihren Stiftern genannte nördliche Tirnakapelle hatte ihren Eingang 
ehemals in der Halle unter der Empore, ebenso die südliche, nach Rudolf IV. und seinen 
Brüdern benannte Herzogenkapelle. Die ostwestliche Länge beträgt lim, die nordsüdliche 
Breite 6 m, die Höhe 13'30m. Die Wanddienste der beiden Kapellen haben in der Höhe des 
Kaffgesimses eine Auskröpfung, die als Sockel einer Statue mit Baldachin bestimmt ist, ähnlich 
wie in der um 1400 entstandenen Freisingerkapelle in Klosterneuburg. 
Das Mittelschiff der Kirche ist bis zum Querhaus 50m lang und 13m breit, die 
Seitenschiffe haben je 11 m Breite. Das Mittelschiff hat 28m Höhe, um 6m mehr als die 
Seitenschiffe. Diese bedeutende Überhöhung läßt die Wölbung des Mittelschiffes ganz in der 
Dämmerung verschwinden, gehört jedoch zu den Eigentümlichkeiten der Wiener Bauschule 
und führt in der Badener Pfarrkirche zu einer Art Basilika ohne Oberlichtgaden. Vier schlanke 
Pfeilerpaare tragen das reiche, aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammende Netzgewölbe. Die 
reichen Laubwerkkapitäle fehlen den bis zum Sockel herabreichenden Gliederungen der Scheid 
bögen. ln halber Höhe schmückt die Pfeiler ein sonst unerreichter Reichtum von je sechs hoch- 
aufgebauten Baldachinen mit Statuen. Die Wände unter den Fenstern beleben Wandtriforien 
in reicher Zier. Das Maßwerk der Fenster ist edel durchgebildet. 
So ist das Langhaus von St. Stephan der weiträumigste und prächtigste Hallenbau in 
deutschen Landen, und wenn er infolge der erwähnten mannigfachen Unregelmäßigkeiten auch 
nicht zu den schönsten gezählt werden kann, so verleihen ihm gerade diese, im Vereine mit 
anderen später hinzugekommenen Zufälligkeiten, jenen eigentümlichen, mehr auf das Gemüt 
des Beschauers wirkenden Zauber, der den Innenraum des Stephansdomes zu einem der 
malerisch reizvollsten Raumbilder überhaupt macht. 
Am zweiten Pfeiler links steht die in den verwickelten Formen der spätesten Gotik der ersten 
Hälfte des 16. Jahrhunderts ausgeführte Kanzel (Tafel 1). Als Meister wurde Anton Pilgram ver 
mutet. Im Unterbau sind die vier lateinischen Kirchenväter und eine Menge von kleinen Statuen 
eingefügt, im Schalldeckel die sieben Sakramente und am Deckgesimse der Wendeltreppe 
kriechen Frösche und allerlei anderes Getier hinan. Drei gotische Baldachine erinnern auch 
hier an den Regensburger Einfluß. Statt des am Nordturm von Meister Oechsel begonnenen vierten 
Baldachins setzte Meister Anton Pilgram von Brünn nach einem sagenhaften Künstlerstreit mit 
Oechsel eine kleine Orgelbühne hoch oben an die Wand; darunter sein Bildnis. Ein Meister 
werk ist der Taufstein 1 ), der nach einem aus Nürnberg bezogenen Entwurf 1481 durch Meister 
J ) Neuwirth, Aus der Baugeschichte von St. Stephan. Monatsblätter des Wiener Altertumsvereines. 1902. 
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