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Pflanzenwelt eine ungemein rasche. Die meisten Gewächse haben schon im Verlaufe von
zwei Monaten ihre jährliche Arbeit abgeschlossen und um die Mitte des September, wenn
die mittlere Tagestemperatur regelmäßig schon unter den Nullpunkt sinkt und der Neuschnee
an den beschatteten Stellen nicht mehr abschmilzt, haben sich schon alle Pflanzen für den
langen Winterschlaf eingepnppt. Trotz dieser kurzen Vegctationszeit ist das Ausreisen der
Samen bei den Gewächsen der Alpenflora nur selten gefährdet. Die Mehrzahl der
alpinen Pflanzen hat nämlich vorläufige Blüten, das heißt Blüten, deren Knospen schon
im vorhergegangenen Jahre angelegt wurden und welche sich noch vor der Entwicklung
neuer Laubblätter kurz nach dem Abschmelzen des Schnees entfalten. Hierzu werden die
Reservestofse verwerthet, welche in den alten mit den Blütenknospen überwinternden
Laubblättern und Stämmen aufgespeichert waren, und erst dann, wenn diese aufgebraucht
und die überwinternden Laubblätter verschrnmpft sind, werden wieder neue Laubblätter
ausgebildet. Auf diese Weise ist der Entwicklung der Früchte und Samen ans den Blüten
ein verhültnißmäßig langer Zeitraum gegeben. Es erklärt sich ans dieser Art der
Verjüngung nicht nur die große Zahl der Pflanzen mit vorläufigen Blüten, sondern
auch das Überwiegen wintergrüner ausdauernder und das Zurücktreten einjähriger
Gewächse, bei welchen letzteren Stamm- und Laubbildung der Blüten- und Fruchtbildung
innerhalb einer und derselben Vegetationsperiode vorausgehen muß und bei denen der
Abschluß der Fruchtreife in sehr gefährlicher Weise gegen die Zeit der Septemberfröste
hinausgeschoben sein würde. Nicht weniger als 96 Percent der alpinen Blütenpflanzen
sind ausdauernd und nur 4 Percent sind einjährig oder zweijährig. — Hochstämmige
Bäume, welche zu ihren voluminösen Neubildungen, insbesondere zur Bildung ihrer Holz-
cylinder mehr als dreieinhalb Monate ununterbrochen thätig sein müssen und die bei dieser
Arbeit eine Wärmemenge binden, welche in der Hochgebirgsregion selbst in den günstigsten
Jahren nicht mehr zur Disposition steht, fehlen. Da der Wasservorrath im Boden und in
der Luft ein sehr reichlicher und stetiger und eine zu weit gehende Austrocknung nicht zu
besorgen ist, so fehlt der Mehrzahl der Pflanzenarten der gegen Vertrocknung schützende
wollige oder filzige Überzug. Achtzig Percent der Gewächse der alpinen Flora sind daher
ähnlich den Sumpfpflanzen anderer Floren vollständig kahl. Nur das bekannte Edelweiß,
die Edelrante und Goldraute und überhaupt die Pflanzen der schroffen Felsklippen, welche
bei anhaltendem Südwinde der Trockniß verhültnißmäßig am meisten ausgesetzt sind,
zeigen grau- und weißfilzige oder seidenhaarige Blattspreiten.
Die Zahl der alpinen Pflanzenarten kann ans 1500 veranschlagt werden. Von
diesen entfallen zwei Drittel auf Sporenpflanzen, ein Drittel auf Samenpflanzen. Von
den letzteren treffen nenn Percent auf niedere Holzpflanzen und eilf Percent auf immer
grüne Gewächse. Der alpinen Flora eigenthümlich oder durch die große Zahl der Arten