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nicht bestimmt wurde, da man dies der Opferwilligkeit eines Jeden überließ, besonders
dann, wenn die Vorstellung zu einem wohlthätigen Zweck abgehalten wurde. Bei solchen
Productionen, bei welchen sich die Schauspieler nach Maßgabe ihrer Betheiligung in den
Erlös theilten, begnügte man sich auch mit Victnalien und dergleichen. Die Spielenden
bemühten sich nach ihren besten Kräften Beifall zu erringen, da ja davon auch der Erfolg
der künftigen Vorstellung abhängig war, zumal wenn sich in der Nähe zwei Schauspieler
gesellschaften befanden. Diesem Wetteifer ist es zu verdanken, daß sowohl Lastibor als
auch Boskov dieselben Spiele, aber nach einer verschiedenen Fassung jahrelang zur Auf
führung brachten und so den künftigen Generationen zwei Muster des schaffenden Volks
geistes erhalten haben.
Volkslied und Tanz der Clanen.
Volkslied ist das Lied, das aus dem Volke kommt. Zwei Elemente bilden das Lied:
der Text und die Melodie, und das wahre Volkslied wäre darum jenes, wo sowohl Worte
als Tonweise miteinander dem Munde des Volkssängers entquellen. Das ist auch ohne
Zweifel in den weitaus meisten Fällen der Anfang, und zwar ohne Begleitung eines
Musikinstrumentes, das ja der Natursänger auf seinem Wege, auf dem Felde oder sonst
bei der Arbeit nicht bei der Hand hat, das er wohl gar nicht zu spielen versteht. In der
Weiterbildung tritt dann aber bei dem Volksliede sehr häufig ein Vorgang ein, der ein
Gegenstück zu dem im Gebiete der Kunstpoesie und des Kunstliedes bildet. Dem letzteren
liegen Worte eines Dichters zu Grunde, denen der Tonsetzer in seiner Composition einen
Passenden Ausdruck zu geben sucht; um ansprechende Lieder berühmter Dichter bemühen
sich Komponisten um die Wette: beim Volkslied findet oft das Umgekehrte statt. Eine
Melodie wird erfunden oder gefunden und gewinnt Boden im Volke, und nun dient sie zur
Grundlage einer Menge von neu erfundenen Texten, deren Stimmung durch sie hervor
gerufen und deren Wortlaut ihnen angepaßt wird. Beispiele dafür gibt es in Fülle. So
haben sich zu der Melodie von uont tu, nein" nicht weniger als neunzehn, zu der
— übrigens sehr nahe verwandten — Weise von „ilotoHrn, jetsiku" siebenzehn, zu der
von „Ustola llumeku" ebenso viele, zu „U Uusperku je eestu Untü" sechszehu rc. rc.
verschiedene Texte gefunden, wobei selbstverständlich nicht ausgemacht ist, ob „rVcll neui",
rTetellca? rc. der uranfängliche Text und nicht etwa eine Variante desselben ist. Wie
leicht strömen dem munteren Burschen, dem sinnigen Mädchen zu einer beliebten Sanges
weise geeignete Worte zu! „Um einen Vers brauche ich nicht weit zu laufen", sagte ein
Landmädchen dem Sprachforscher Erben, als sie dieser auf eine ihm neue Strophe in
einem sonst bekannten Liede aufmerksam machte.