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Volkslied, und anderseits gibt es Volkslieder, wo weder das Eine noch das Andere vor
kommt. Das Wesen des Volksliedes liegt in der Ursprünglichkeit sowohl seiner Stimmung
als des Ausdrucks, in welchem jene sich kundgibt. Neuere Dichter haben sich mitunter
nicht ohne Glück in der Nachbildung solcher Weisen versucht, andere an ein Volkslied im
Geiste und in der Sprache desselben angeknüpft. Das bekannteste Beispiel ist die Aus-
spinnnng der wehmuthsvollen Klage: „8il jsein proso na 8onvrntU< — von Ole Bulls
seelenvollem Spiel durch die ganze musikalische Welt getragen —, das Milota Zdirad
Polak in vier weiteren Strophen fortgebildet hat. Erben glaubte keinen Anstand zu
nehmen, auch Poläks Dichtung in seine Sammlung aufzunehmen und dadurch als Volks
lied erscheinen zu lassen. Doch mit Unrecht, denn es wird Wohl, bei allen Vorzügen seiner
Dichtung, Jedem das Gekünstelte von Polaks vier weiteren Strophen gegen die Naivetät
der ersten auffallen. Läßt sich ein beliebteres, mehr verbreitetes, ein populäreres Lied
denken als das „Läa ckoinov müj«, das einen Kunstdichter zum Verfasser, einen Knnst-
musiker zum Tonsetzer hat? Es ist in der That für die Böhmen, so weit sie unter allen
Himmelsstrichen wohnen, zum „Volkslied" in jenem Sinne geworden, wie man die
Haydn'sche Kaiserhymne das österreichische „Volkslied" zu nennen pflegt. Allein Volkslied
in jenem Sinne, mit dem wir es hier zu thun haben, ist „Lcko ckornov nrnj« keineswegs,
nicht blos um seines Ursprungs, sondern auch um seines poetisch-musikalischen Charakters
willen. Was kann nicht Alles populär werden?! Wer erinnert sich nicht an das ziemlich
alberne „S^t ss pinkt Uäm", das in den Sechziger-Jahren auf allen Gassen gepfiffen,
geträllert, gesungen, gebrüllt wurde? Ist es dadurch zum Volkslied im wahren Sinne des
Wortes geworden? —
Wie anregend das slavische Volkslied in einem anderen Gebiete wirkte, beweisen
die Darstellungen des Malers Joses Manes, von dem wir drei Illustrationen reprodu-
ciren; sie gehören zu den Volksliedern: Vrckülerm (Die Entfernte), Uoteella (Tröstung),
Ui-Lva poMoin (die Kuh ein Trost) und lauten:
Berg, o Berg, wie hoch bist du!
Liebchen mein, wie fern bist du,
Hinter Bergen, die uns scheiden! —
Liebe welket zwischen Beiden;
Recht besorgt war der Arme !
Um das Brot, mit der Armen.
Sagte da Gott der Herr,
Gibts doch keinen größern Trost, als ^
Eine Kuh im Stalle! I
Und sie welkt, bis sie verwelket!
Keinen Trost gibt auf der Welt es,
Keinen Trost gibt es zu finden,
Keiner mehr für mich zu finden!
Daß er Hab' noch viel mehr,
Daß er gibt Mehl zum Backen,
Einen Sack für die Dalken.
Morgens melken wir sie, abends
Essen Milch wir alle.