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Wie sich die Jll bei Feldkirch in einer Doppelklamm den Austritt ins Rheinthal
erzwungen, in welchem sie ihren kurzen Unterlauf zurücklegt, so ist auch der Mittellauf des
Flusses vom Oberlauf durch eine Thalschlucht ungewöhnlich scharf abgegrenzt. Unmittelbar
oberhalb der Mündung der Alsenz, die vom Arlberg herunterkommt, nähern sich die
Abhänge des Lorünser und der Davenna in senkrechten Wänden derart, daß nur für
Fluß und Straße noch Raum bleibt. Ist diese Enge, welche Stebösi heißt, was dasselbe
bedeutet wie via mala, durchschritten, so treten wir beim Weiler Lorüns ins Montafon,
welchen Namen das obere Jllthal führt. Bald überblicken wir einen großen Theil des
Thals, das zwischen St. Anton und Schruns seine schönsten Bilder zeigt. Die mäßig
breite, wohlbebaute Thalsohle ist mit zahllosen Kirschbäumen besetzt, so daß die Wanderung
durchs Thal namentlich zur Zeit der Blüte den herrlichsten Anblick bietet. Zwischen den
Bäumen schauen die sauberen Häuser freundlich hervor; die Berghalden sind weit hinauf
mit Gehöften besetzt, die zwischen Äckern und Wiesen zerstreut liegen, und im Hintergrund
der von Westen und Süden her sich öffnenden Thäler schauen die hohen Gipfel der
Rhätikonkette ins Thal. Wo das in einem großen Bogen nach Osten sich erstreckende
Silberthal mündet, ist der schönste Punkt des Montafon. Hier liegt der Hauptort desselben,
das Dorf Schruns, dem Ökonomen durch seine berühmten Viehmärkte bekannt, in seiner
Bauart einem kleinen Städtchen nicht unähnlich; ihm gegenüber erblicken wir am linken
Jllufer die stattliche Wallfahrtskirche von Tschagguns, von einer kleinen Häusergruppe
umgeben. Über derselben erhebt sich der rothgelbe Zahn der Mittagsspitze (2.164 Meter),
hinter dem sich aber vom Thal ans nicht sichtbar — die Schwarzhornspitze
(2.457 Meter) und noch höher der gewaltige Stock der Sulzfluh (2.804 Meter) aufbant.
Den weitern Ausblick aber gewinnen wir erst vom Dorfe Außerbartholomäberg, das an der
Berglehne nördlich von Schruns liegt, von wo wir nicht nur einen großen Theil des
Thals, sondern auch die gewaltigsten Bergstöcke der Rhätikonkette überschauen, unter
denen namentlich die Zimberspitze (2.640 Meter), die Drusenfluh (2.274 Meter) und
die Sulzfluh hervorragen; letzteren beiden sind Gletscher vorgelagert.
Bald ober Schruns verengt sich das Thal; ein gewaltiger Schuttkegel, die Fratte
genannt, bildet die natürliche Scheide zwischen dem äußeren und inneren Montafon oder
Außerfratte und Jnnerfratte, wie der landesübliche Ausdruck lautet. Anßerfratte zeigt uns
neben der Großartigkeit der Thalform doch vorwiegend freundliche Landschaftsbilder; der
Charakter der Jnnerfratte aber ist, wenn auch nicht gerade düster, doch ernst und ver
schlossen. Die Thalsohle ist beengt, verliert sich stellenweise ganz, um sich erst im oberen
Theile wieder auszubreiten; die Berghalden sind steiler und geben nicht mehr Raum für
Feld und Acker; die freundlichen Gehöfte an denselben sind fast verschwunden und nur ein
einziges großes Dorf lagert sich noch hier, St. Gallenkirch, die Heimat der allerorts
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wohlbekannten Krautschneider. Die weiter thaleinwärts liegenden Ortschaften sind klein
und unansehnlich, so Gnrtipol, Gaschurn und Patenen (1.047 Meter), das letzte Dorf de^
Thals auf ziemlich breiter Thalsohle, die nur mehr geringe Fruchtbarkeit zeigt. Von hier
bildet die schöne Pyramide der Vallüla (2.810 Meter) den scheinbaren Thalabschluß.
Von Patenen führt ostwärts ein ziemlich stark begangener Saumweg, das 1.852 Nieter
hohe Zeinisjoch, nach Tirol; weiter südlich vermittelt die Biller Höhe (2.046 Meter)
ebenfalls die Verbindung mit dem östlichen Nachbarlande. Bei Patenen biegt das Jllthal
plötzlich nach Süden um, während es bisher in seiner ganzen Erstreckung die südöstliche
Richtung eingehalten. Mit dieser Richtung ändert sich auch der Landschaftscharakter wieder.
Wir betreten nun das Gebiet des Hochgebirges, das die bleibende Ansiedlung der Menschen
nicht mehr duldet. Die Berge der Gneiszone, in die wir schon bei St. Gallenkirch getreten,
zeigen zwar gewöhnlich nicht die seltsamen Gestalten der Kalkgebilde, aber sie bauen sich
gewaltiger auf und sind in ihrer geringeren Zerklüftung der Gletscherbildung günstiger, und
bald führt uns auch das Thal in die Regionen, wo das Rauschen der Wässer verstummt
unter der Fessel des ewigen Eises, aus dem sich die dunklen Bergriesen im äußersten
Süden des Landes in ewig ungestörter Einsamkeit majestätisch erheben. Zu Füßen der
südlichsten und höchsten Grenzmarke, des 3.313 Meter hohen Albuiukopf oder Piz
Buin, lagert sich ein weites Amphitheater von Eis und Gletschern (Vermont), arw dem
in einer Höhe von 2.176 Meter die Jll ihren Abfluß nimmt.
Von Bludenz erstreckt sich in genau östlicher Richtung das Klosterthal, welches
unter allen Thälern des Landes am wenigsten reich sein dürfte an landschaftlicher «Schönheit.
Von der Mündung bei Bludenz bis zum Dorfe Braz ist es noch ziemlich brert und nrcht
unfreundlich, aber es steigt schon bedeutend an. Von Braz thaleinwärts verschwindet
allmülig die Thalsohle; die Straße, welche oft das Flußufer wechseln muß, um Raum
zu gewinnen und vor Lawinen und Muhren geschützt zu sein, hält schon die nächst höhere
Stufe ein: noch höher liegt die Eisenbahnlinie, welche bald hinter Bludenz rasch ansteigt
und dann in kühnem Bau oft an schwindelnden Abgründen der Klosterthaler Alpen hinzieht,
deren Wände und Kämme mauergleich emporragen, von zahllosen Wildbüchen durchussen.
Tief unter der Bahnlinie liegen die wenigen armen Dörflein, von denen Klösterlc, am
Ausgang des Wäldlitobels, dem Thal den Namen gegeben hat. Auf der Südseite sind die
Bergabhänge meist dicht bewaldet und verhindern durch ihre Nähe den Blick auf die Gipfel
der weiter rückwärts aufragenden Gneisberge der Verwallgruppe. Dort wo die Straße
auch das Niveau der Eisenbahnlinie erklommen hat, um über Stuben die Höhe des Arl-
berges zu gewinnen, liegen die wenigen Häuser von Langen (1.217 Meter) in nächster
Nähe des Westportals des großen Tunnels. Ans geringer Entfernung grüßt das Dörflein
Stuben znm Abschied, wie es uns den Willkomm beim Eintritt ins Land geboten hat.
Tirol und Vorarlberg.