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die lateinische Volkssprache in dem heutigen Wälschtirol, als es eine römische Provinz
geworden war, so schnell festen Fuß gefaßt hat.
Von einer weitverbreiteten und starken Latinität im alten tridentmischen Gebiete
geben auch die vielen dort aufgefundenen Inschriften Zeugniß. Das Verhältniß, in
welchem sich das älteste oder rhätische Element mit dem Lateinischen vermischte, war ungleich
je nach der Verschiedenheit der Gegenden und der Umstände. So widerstand in Mittel-
rhätien das alte Element zäher als im heutigen Wälschtirol, und auch hier konnte der
römische Einfluß nicht überall dieselbe wirkende Kraft üben. In der Nähe der römischen
Standlager und Heerstraßen, wie im Etschthal und Suganathal, war die Wirksamkeit des
römischen Einflusses schneller und stärker, hingegen langsamer in den Thälern des Sarca,
des Noce und des Avisio. Wie es sich aber auch damit verhalten mag, immerhin dürften
bei der Berührung mit den angrenzenden Gebieten Italiens die einheimischen italienischen
Mundarten von Südtirol sich gleichzeitig mit den anderen Mundarten Italiens entwickelt
haben. So kam es, daß die wälschtirolischen Dialecte, wie sie gegenwärtig ansgebildet
sind, die Mitte zwischen den lombardischen und den venetianischen Sprecharten halten,
obgleich sie sich mehr den letzteren nähern.
So hat z. B> der Roveretaner Dialect die häufige Veränderung des betonten a in
der Nennwortsnachsilbe -arins (italienisch -ario, -ajo, -ioro) in 6 mit der venetianischen
Mundart gemein, so: t'orrör (Schmied), rnnror (Maurer), rnolinör (Müller), ponrör
(Apfelbaum) u. s. w., während in dem Trientner Dialect diese Wörter korrär, mni-ar,
inollnär, poinar u. s. w. lauten. Die roveretanische Sprechweise hat mit der venetianischen
auch die Ausstoßung des Zahnlautes ck zwischen zwei Vocalen gemein, z. B. llattüa
(Schlag), bsvüa (ein rechter Trunk), pröa (Stein) u. s. w., während der Dialect von
Trient die entsprechenden Wörter dattüäa, bevüäa, pröäa u. s. w. gebraucht. Der
Trientner Dialect ist überdies weniger wohlklingend als der von Rovereto und hat viele
Endconsonanten, Betonungen und Laute, welche den lombardischen Mundarten gleichen.
Mehr oder weniger, je nach der Verschiedenheit der Orte und am meisten in den
Thälern des Avisio und des Noce, beobachtet man in den Mundarten Wälschtirols sowohl
in der Form als im Laute rhätoromanische Spuren. Man beachte hier nur, um wenigstens
die Hauptmerkmale des ladinischen Gepräges anzuführen, welche den echt italienischen
Dialecten fremd sind: a) den Übergang der lateinischen Kehllaute cm und ga in die
entsprechenden Gaumlaute 6a, ga (sprich: tsolla und äsclla): easa (Haus), vaäa (Kuh),
gal, italienisch gallo (Hahn), und insbesondere in die dem Nocegebiet eigenen Palatal
laute ea und ga (t^a, clzm): eaval, italienisch cmvallo (Pferd), äagtol, italienisch eastollo
(Schloß), öarckar, italienisch eantars (singen), lsgain, italienisch legairw (Band); b) die
Auflösung des 1 in n in den Formeln alil, alt u. s. w.: eancl (sprich: eiäuck), italienisch