54
Fahrstraße neben dem Eisackbett Platz gefunden, welchen Beiden sich als Dritter im Bunde
der Schienenstrang anfügt, der, oft ganz in den Fels hineingedrängt, in Tunnelen seinen
Pfad suchen mußte. Wir begehen jetzt eben den sogenannten Kuntersweg, der seinen
Namen vom Bozener Kaufmann Heinrich Kunter erhalten hat, welcher im Jahre 1314
in dieser Schlucht eine Fahrstraße anlegte, und durchziehen ein Gebiet, das als das größte
Porphyrplateau der Erde für den Geologen von ganz hervorragendem Interesse ist, wenn
es auch landschaftlich nur wenig bietet. Am Südende dieser Felsschlucht thront über
Waidbruck die herrlich gelegene, stattlich erhaltene Trostburg, der Geburtsort Oswalds
von Wolkenstein des Minnesängers, ein Besitz dieses Grafengeschlechtes. Das bescheidene
Örtchen, das römische Sublavione, ist als Ausgangspunkt für Touren ins Grödnerthal
wichtig geworden und dürfte namentlich durch die neuerbaute Straße dahin einer schönen
Zukunft entgegensehen. Sie führt neben einer zweiten, tiefer unten liegenden, über das
freundliche Hochplateau von Kastelruth am Fuße der Seiseralpe vorüber nach St. Ulrich,
dem Hauptort des Thals und dem weltberühmten Emporion der Grödner Holzschnitzerei,
die neben der landschaftlichen Schönheit als Hauptgebiet der Dolomitriesen und neben
der Eigenart der Sprache, dem Ladiner Dialect, das kleine Fleckchen Erde in aller
Welt angepriesen hat; leider fällt ihr ein Schmuck des Hochgebirges, die edle Zirbelkiefer
allmälig zum Opfer. — Hinter St. Ulrich erreicht man in stetem Vorblick auf den
Langkofl die letzte Thalgemeinde Sta. Maria, über welcher die alte Veste Wolkenstein
in dem ausgehauenen Felsen eingemauert und nur auf einer Felsentreppe zugänglich,
gelegen ist; hier sann der Dichter seiner Minne nach und spendete der Mit- und Nachwelt
seine kostbaren Lieder.
Alsbald fallen dem Wanderer bei Atzwang die dunklen Cypressen auf, welche ihm
den Eingang in einen noch wärmeren Süden verrathen. Zur Linken über ein prachtvolles
Plateau hinziehend, erreichen wir am Fuße der jäh abfallenden Wände des Schlern das
im dunklen Waldesschatten gelegene Bad Ratzes. Der nahe Frötschbach treibt allerlei
Mineralien vom Plateau der Seiseralpe herab, größere und kleinere Raritäten, unter denen
die Grünerde als Klausner- oder Brixner-Grün in den Handel kommt; drüben liegt unweit
eines kleinen Sees die Ruine Hauenstein, in welcher Oswald von Wolkenstein sein
Schwanenlied gedichtet, und senkrecht darüber ragen die Nadeln des Schlerns auf, der einst
durch einen Kamin, die mit dem blauen Glöckchen der Oainpannln Llorsttiana geschmückte
Schlernklamm, bestiegen wurde. Heute ist es anders: ein hübscher Reitsteig führt fast ganz
auf die Spitze des Schlernplateaus, das durch den Flor der herrlichsten Alpenblumen
Herz und Auge erfreut; auf demselben liegt das blockhausartige Schlernhaus mit allen
Bequemlichkeiten ausgestattet, und wenige Schritte darüber genießt man von der Spitze
des Schlern (2.561 Meter) die schönste Aussicht, vor Allem auf die nahe Rosengartenkette