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Wie für den Polen überhaupt der polnische Edelmann typisch ist, so drückt sich die
Natur des polnischen Landvolkes im Krakvwiaken ans. Was in diesem bis zur höchsten
Stufe entwickelt ist, das findet man in höherem oder geringerem Grade auch bei allen
Anderen. Der Gorale, welcher nms Brod weit in die Welt hinaus wandert, ist ver
schlossener, gewandter, realistischer, der Mazure, der gegen Rnthenien vorgeschoben ist,
hat einen Anflug von Melancholie, von sanfter Langsamkeit, von Mißtrauen und ist
weit weniger hurtig und unternehmend.
Trachten. — Es gibt drei Haupttypen der Landestrachten, welche auf den ersten
Blick leicht wahrzunehmen und zu unterscheiden sind: den Krakauer-, den Goralen-
(Gebirgs-) und den Mazurischen Typus; doch hat ein jeder von ihnen hunderterlei
Varietäten. Fast in jedem Dorfe begegnet man etwas Abweichendem: in der Farbe, im
Schnitt, im Fehlen oder Hinzukvmmen verschiedener Details, endlich sogar in verschiedener
Art des Tragens eines und desselben Gewandstückes.
Der Übergang von einem Typus in den anderen ist gleichfalls ein sehr allmäliger;
dieses trägt ebenfalls zur Bereicherung der ohnedies schon großen Mannigfaltigkeit bei.
Endlich kommt es auch vor, daß auf dem Terrain einer bestimmten Tracht irgend etwas
ganz Abweichendes auftaucht, das zu keinem der Haupttypen gehört, das ein polnisches,
aber kleinstädtisches und nicht etwa ländliches oder fremdartiges, durch Cvlonisten
importirtes Gepräge hat. In dieser Hinsicht ist das mazurische Terrain sehr bemerkenswert!,.
Und schließlich trügt auch der Stoff, aus welchem die Tracht verfertigt wird, nicht wenig
dazu bei, sie mannigfaltig zu gestalten. Diese reiche Vielfältigkeit ist indessen durchaus kein
unverständliches Chaos, es ist Ordnung und Gesetz darin; man kann deutlich sehen, wie
sich ein Typus aus dem andern entwickelt und wenn man nach den Ursachen der auffälligsten
Unterschiede forscht, so begreift man bald, warum etwas so und nicht anders gerathen ist.
In den Gebirgsländern ist die Schafwolle vorherrschend, da das Klima dort rauher
ist; in der Ebene hingegen, wo es wärmer ist, Hanf und Lein zugänglicher sind, herrscht
das Leinengewebe vor. Die Bewohner der Ebene gefallen sich in langen, faltigen
Gewändern, die Goralen lieben kürzere und knappere Gewandung.
Allein auch in der Ebene kann es verschiedene Lebensbedingnngen geben, denen sich
die Tracht anpassen muß. In einer Waldgegend muß die Volkstracht jener der Berg
bewohner nahekvmmen und es ist in der That interessant, unter diesem Gesichtspunkt den
Goralen der Karpathen mit dem Lasvwiaken (Wäldler), dem Mazuren der Sangegend,
zu vergleichen. Das Oberkleid des Lasvwiaken ist zwar länger als das des Goralen, doch
kürzer als das des Bewohners der freien Ebenen. Im Winter ist es tiefer Schnee, im Sommer
der Thau ans den Gräsern, oder es sind diese Gräser selbst, verschiedenes Gestrüpp,
abgesallene Äste, umgcstürzte Baumstämme, welche eine längere Gewandung unbegucm