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ich kam, nicht." Sie gehen znm Feuer, sie gehen zum Wasser und wiederholen überall die
gleiche Bitte, aber überall hören sie die furchtbaren Worte: „Ich kann nicht, ich kann
nicht." Endlich stehen sie vor der Höllenpsorte. Diese öffnet sich rasselnd und aus dem
Höllenfeuer hören sie eine Stimme rufen: „Kommt herein!" Sie aber jammern, vom
Anblick des entsetzlichen Abgrundes erschreckt, unter Thrünen: „Heiligste Jungfrau, rette
uns, ach rette! Denn Du bist unsere Mutter und Fürsprecherin und Erlöserin!" Da
erscheint die heilige Mutter, macht vor ihnen das Zeichen des Kreuzes und breitet, sie
beschützend, ihren Mantel vor dem Höllenschlunde aus. Allein die von der Sünde Befleckten
können nicht in den Himmel eingehen; so geleitet sie denn die heilige Mutter auf einem
steinigen, dornenvollen Pfade über den Abgrund. Blut rinnt von ihren Sohlen, sie schreiten
aber weiter, denn sie wissen, daß ihnen der Herr Jesus so viele von ihren Sünden Massen
wird, als sie Blutsthränen vergießen.
Und wie ist die Litanei zur heiligen Mutter Gottes entstanden, jenes schönste Gebet,
welches das Polnische Volk mit so inniger Inbrunst spricht? Also: Da der Herr Jesus noch
ein junges Knäblein war, da hätschelte er oft sehr zärtlich sein allerheiligstes Mütterlein.
So kam es, daß, als er einmal auf den Knien der heiligen Jungfrau liebkosend saß, er
ihren Hals mit seinen kleinen Ärmchen umfing und anfing, ihr allerlei schöne und liebkosende
Titel zu geben. Er sprach: „Heilige Maria, heilige Gottesgebärerin, heilige Jungfrau
über alle Jungfrauen ..." und so weiter, bis er alle die Namen genannt hatte, aus welchen
heute die Litanei zur allerheiligsten Jungfrau besteht. Die heilige Mutter wollte das
Jesnkindlein nicht unterbrechen und lauschte mit unsagbar süßer Wollust dein lieben
Geplauder ihres Söhnchens. Sie lächelte nur und freute sich. Erst als Jesus zu den Worten
gekommen war: „Königin der polnischen Krone", durch seine göttliche Kraft aber im
Herzen der heiligen Jungfrau das ganze Unglück dieser Krone gegenwärtig werden ließ, alle
die Thränen, die Unfälle, das Unrecht, das ihr durch die Verfolger des Glaubens zugefügt
werden sollte, da zog sich das Herz der Gottesmutter schmerzlich zusammen und es
brachen Thrünen in ihren Augen hervor, sie drückte das Jesukind innig an ihr Herz und
rief mit herzlicher Bitte aus: „O Du Lamm Gottes, welches hinwegnimmt die Sünden der
Welt, erhöre mich, o Herr! O Du Lamm Gottes, welches hinwegnimmt die Sünden der
Welt, vergieb ihnen, v Herr! O Du Lamm Gottes, welches hinwegnimmt die Sünden der
Welt, erbarme Dich ihrer, o Herr!" Und der Herr Jesus antwortete ans diese innige Bitte
seiner heiligsten Mutter mit feierlicher Stimme: „Amen!"
Die Legenden der Heiligen behandeln größtentheils ihre Wunderwerke. Als Beispiel
führen wir hier nur die der heiligen Kunigunde an, der Tochter des Ungarkönigs Bela U .
und Gattin des polnischen Königs Boleslaus des Schamhaften (1243 bis 1279), welcher
so genannt wurde, weil er in vollkommener Reinheit neben seiner frommen Gemalin lebte.