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Zunge nicht einen Kriegshelden, sondern einen Meister des Wortes und Gedankens
herübergeholt hat, um an ihm ihre mythenbildende Kraft zu versuchen. Allerdings muß zu
theilweiser Erklärung beigefügt werden, daß einstmals zwischen Tolmein und dem oberen
Jsonzo-Thal überhaupt und dem italienischen Friaul recht lebhafte Wechselbeziehungen
herrschten. Sie finden ebenfalls in einer anderen Erzählung Ausdruck, in welcher sich
überdies unschwer Anklänge an die deutsche Faust-Sage erkennen lassen. Sie stammt aus
Dreznica unter dem Kern.
Bauersleute aus Trenta, unweit der Quellen des Jsonzo, sandten ihren Sohn nach
Udine, um Studien obzuliegen, und versahen ihn vom väterlichen Hause aus mit Lebens
mitteln. Da fiel einmal im Gebirge so reichlich Schnee, daß alle Verbindung unterbrochen
wurde. Nachdem der Student lange vergeblich auf die gewohnte Unterstützung gewartet
hatte, wußte er sich nicht anders zu helfen, als daß er sich dem Bösen verschrieb, der ihm
Hilfe brachte. Das Verhältniß wurde ihm jedoch zur Last und um es zu lösen, wandte er
sich um Rath an die heilige Sibylle. Diese gab ihm das Mittel an, sich der Herrschaft des
Bösen zu entziehen, und verlieh ihm außerdem die Gabe der Weissagung; doch blieb es
ihm untersagt, wie er gewünscht hatte, sich dem Priesterstand zu weihen. Unter anderem
sagte der Student aus Trenta vorher, es würden einst von Westen zahllose Scharen von
Feinden mit Bocksbärten über das Gebiet von Tolmein Hereinbrechen, sie würden es von
Grund aus verwüsten und alle Männer aus demselben mit sich führen, so daß die Zurück
bleibenden leicht im Schatten eines einzigen Nußbaums Platz fänden. Die Weiber würden
dann sich so heftig nach Männern sehnen, daß sie von Berg zu Berg eilen würden, weil
sie irgendwo eines Mannes Rock auf dem Boden liegen zu sehen vermeinten. Erreichten sie
aber die betreffende Stelle, so fänden sie nur einen modernden Klotz.
Aus Huda Juzna an der Baca im Tolmein'schen berichtet man folgende Erzählung:
Ein Soldat mußte in den Krieg und ließ sein Liebchen mit dem Versprechen zurück wiedcr-
zukommen, falls sie ihm die Treue bewahre. Der Krieg war zu Ende, da klingelte es eines
Nachts an des Liebchens Thür. Sie rafft sich vom Bett auf und stürzt hinaus, wo der
Geliebte sie hinter sich aufs Pferd hebt und dann mit ihr in rasender Schnelle davonjagt.
Dabei spricht er zu ihr: „Sieh nur mein Liebchen, wie hell der Mond scheint und wie
schnell die Todten reiten." Endlich langt das Paar an einem Friedhof an. Er springt vom
Pferde und stürzt in ein Grab, in welches er sein Liebchen hinunterzuziehen sich bemüht.
Ihr gelingt es indeß, sich aus seinen Armen loszumachen, und sie flüchtet in die Todten-
kammer, wo sie mit Hilfe eines anderen Todten, der darin aufgebahrt lag, sich schließlich
ganz befreit. Sie macht sich auf den Rückweg nach ihrer Heimat und dort eingetroffen wird
sie gewahr, daß sie eine lange, lange Zeit davon ferne geblieben ist, denn sie findet Niemand
mehr, der sie erkennt oder den sie vor ihrer gewaltsamen Entführung gekannt hatte.