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Wer fände nicht in der vorstehenden Erzählung denselben Stoff, der Bürger zum
Vorwurf seiner Lenore gedient hat, und einen Beweis mehr dafür, daß allen Völkern
arischen Ursprungs ein gemeinsamer Sagenkreis eigen ist?
Tolmein gegenüber am rechten User des Jsonzo steht inmitten der üppigen Fluren
des Woltschacher Feldes eine Kirche, die St. Daniel im Schwarzwald genannt wird. Der
Name schon weist auf die Vorzeit hin, in der dichter Wald von den Bergen bis in die
Thalsohle hinunterreichte. Von ihr sagt man in der That, daß sie das älteste christliche
Gotteshaus der ganzen Gegend sei und daß, als jenseits der Berge in der anstoßenden
krainerischen Wochein noch heidnischen Gottheiten geopfert wurde, die Leichen dort ver
storbener vereinzelter Gläubigen auf dem Rücken von Saumthieren über die unwegsamen
Joche der Alpen hierher gebracht wurden, um in geweihter Erde bestattet werden zu können.
In dem Maße aber, als sich das Hochland gegen die Ebene absenkt, schwindet auch
die Kraft des Volksgeistes, die alten Sagen festznhalten. Hier und da taucht noch eine
Erinnerung an die verwüstenden Einfälle der Türken auf, so beim Turski Kriz in der
Thalenge unterhalb Podsela, zwischen Woltschach und Canale oder am Turski Klanec im
Ternovaner Wald. An beiden Orten soll ihren wilden Horden ein Empfang bereitet worden
sein, der ihnen die Lust zur Wiederkehr benommen hat. Am letzten Absturz des Gebirges
endlich, am Südabhang des Caven haftet die in von Südslaven bewohnten Ländern
wiederholt auftretende Überlieferung, daß hoch über dem heutigen Meeresspiegel in die
Felsen gewaltige eiserne Ringe eingelassen seien, an welche Seefahrer vor unvordenklichen
Zeiten ihre Schiffe befestigt haben sollen.
So weit übrigens Slovenen im Lande wohnen, vom Triglav bis wo der Karst mit
steilem Uferrand zum Meere abstürzt, lebt noch eine dunkle Ahnung von dem Glauben
ihrer Vorfahren an den Einstuß, den die Rojenice und die Vilen auf die Geschicke der
Menschen zu nehmen vermögen. Nicht ohne Scheu wird der Rojenice, der Schicksals
göttinnen der Slovenen, gedacht. Man stellt sich dieselben als drei schöne weißgeklejdete
Schwestern vor, welche bei der Geburt eines Kindes an dessen Wiege treten, um ihm seine
künftigen Lose vorherzusagen. Die zwei, welche zuerst die Zukunft künden, versprechen
zumeist nur Gutes; entscheidend ist aber, was die dritte spricht, denn diese offenbart das
Verhängniß, das sich erfüllt und nur zu oft Schlimmes enthält. Darin liegt ein Zug von
Pessimismus, der in dem ganzen, schwermüthig angelegten Wesen des Südslaven an den
Tag tritt. Die Vilen dagegen, welche auch in den Volksliedern der Kroaten und Serben
gefeiert werden, breiten mit Vorliebe ihre schützende Hand über Sterbliche aus und sind
daher selten gefürchtet. Aus Sonnenstrahlen entstanden und in allem Anfang Bewohnerinnen
der Wolken, stiegen sie später im Dienst des Gottes des Lichtes zur Erde hernieder.
Körperlos und in weiße dünne Gewänder gehüllt, zart von Gestalt, blassen Antlitzes mit