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Grado vor vielen Orten des Küstenlandes voraus, nämlich einen sandigen Meeresstrand,
welcher dem Wogenschlag der offenen See freisteht. Es ist eine lange Düne, gerade dem
Süden und der Breitfläche des Meeres entgegengestreckt — nicht im Hintergründe eines
Golfes verborgen, nicht mit Geröllboden oder jäh abfallenden Tiefen, sondern ein flacher
Sandstrand, in dessen wohligem Wasser ein längerer Genuß der Salzflut möglich ist als
in den Bädern der Nordmeere.
Fahrten durch die Lagunenkanäle bieten eine Menge von anziehenden Bildern. Man
würde oft vermeinen, daß man sich irgendwo in der Gegend von Rotterdam oder Schiedam
bewege, wären die mächtigen Hochgebirge nicht, deren Halbrund die Schaubühne im
Norden umspannt. Grado und Porto Buso waren einst die Häfen von Aquileja, elfteres
Kriegshafen, in welchem ein Theil der ravennatischen Flotte hinter der schützenden Düne
ankerte, letzteres Handelshafen, von wo ans auf dem Natiso (Natisone), der zu jener Zeit
an Aquileja vorüberfloß, die kostbarsten Maaren des Ostens nach der großen Stadt
gebracht wurden. Heute sieht man längs dieser Kanäle Strohhütten, vor welchen Netze
trocknen, Schlammflüchen, auf welchen bleiche Weiber und Kinder nach allerhand Seegethier
suchen, weite Schilfgründe mit gelben Wasserlilien, hier und da in der Ferne ein orange
farbiges Chiozzotensegel, Binsenmauern um abgeschlossene Räume, in welchen die Fische
aufgehalten werden, welche die Flut hineinträgt, — dort der letzte Baum, der vom Fest
lande her in diese amphibische Gegend vorgewandert ist, eine zerzauste Pinie ans gelber
Düne und hinter ihr das tiefe Blau des Meeres mit seinen Schaumstreifen. Da und
dort sieht man Pfähle zum Anbinden der Schiffe, einen Kahn, von einem Weib gerudert,
der Fische nach Aquileja bringt. Bald bemerkt man das Einströmen der Flut in die Kanäle,
bald führt man durch eine gewundene Wassergasse, in welcher das Röhricht Schlamm
marken der abgeflossenen Flut anfweist, bald verspürt man am stärkeren Wellenschlag das
Hereinbrechen des offenen Meeres. Jetzt geht der Wanderer, wenn er Vorsicht gebraucht,
trockenen Fußes über die graue Fläche. Wenige Stunden später, und sie wird hüftenhoch
vom Brackwasser überrauscht. Jetzt weht erfrischende Luft vom beschneiten Monte Cavallo
herab, dann kommt uns wieder der moderige Schlammgeruch des unsicheren Ufers
entgegen, auf dessen Breibodcn im Sonnenlichte fortwährend mit leisein Geknister Wasser
blasen platzen.
Von dieser Landschaft wenden wir uns wieder nach der Stadt Aquileja, welche von
Grado in nördlicher Richtung zehn Kilometer entfernt ist. In einer landschaftlichen
Beschreibung kann nach dem Gesagten nicht viel Raum für einen verlassenen Ort sein,
von dessen alten Gebäuden nichts mehr übrig ist. Doch mag hier erwähnt sein, daß die
Verwunderung darüber, wie es möglich war, eine Stadt von mehreren hunderttausend
Einwohnern in solcher Weise zu zerstören, sich mindern wird, wenn man erführt, daß der